Neuanfang

Neuanfang

Ein Jahr geht zu Ende, ein neues beginnt. Wir können also neu anfangen.
Im Laufe unserer Geschichte haben wir den Rhythmen im Universum eine Struktur gegeben. Dazu gehören auch die Zeit und der Kalender, die unser Leben so selbstverständlich einteilen, als hätten sie eine weitaus tiefere Bedeutung als diejenige, die wir Ihnen geben. So lassen wir uns in unserem Alltag häufig von der Zeit kontrollieren und geraten unter Druck, statt einfach das zu tun, was gerade anliegt und getan werden muss.
Unser Universum entwickelt sich und verwandelt sich unaufhörlich. Vor 13,7 Milliarden Jahren entstand durch den Urknall das Universum, in dem wir Menschen heute leben und das sich im evolutionären Prozess seiner selbst bewusst wird.

Als Träger von Bewusstsein spielen wir Menschen dabei eine wichtige Rolle, neigen aber zu stetiger Selbstüberschätzung. Wir nutzen die Instrumente unseres Bewusstseins, unsere Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken dazu, uns einzuschränken und zu isolieren, statt die Leere, Weite und Tiefe zu erfahren, die wir sind.
Vielleicht war auch der Urknall nur ein Übergang, eine Verwandlung von einem Prozess in den nächsten und vielleicht ist unser Universum auch nur eines unter unendlich vielen. Unsere Galaxie ist ein winzig kleiner Teil unseres Universums und unsere Sonne ist eine von Milliarden anderer unserer Milchstraße. In einer Milliarde Jahren wird unsere Sonne unsere Erde verschlungen haben, auf der sich bis dahin die Kontinente mehrfach vereinigt und wieder geteilt haben. In zwei Milliarden Jahren wird unsere Galaxie, die mit einer Geschwindigkeit von 900.000 Kilometern pro Stunde um ihren Mittelpunkt rotiert, wahrscheinlich mit ihrer Nachbargalaxie Andromeda kollidieren. Überall im Weltraum können wir heute die Geburt und den Tod von Sternen und Galaxien beobachten.
Soweit hinaus geht unser Blick in der Regel aber nicht. Wir haben genug mit der Bewältigung unseres Alltags zu tun und fühlen uns betroffen oder abgestoßen von all dem, was um uns herum in der Welt geschieht. Diese Welt und ihr Dasein ist aber immer unser Dasein. Es entsteht aus sich selbst heraus und hat nur den einen Zweck, gelebt zu werden.
Wandel und Neuanfang geschehen jeden Augenblick – ganz im Gegensatz zu fast allen Weltbildern der Menschheitsgeschichte, die versuchen, die komplexen dynamischen Prozesse der Evolution auf statische Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren, um damit die Wirklichkeit den beschränkten aber entwicklungs-fähigen Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen anzupassen.
Jeder Mensch kreiert sich seine Wirklichkeit nach seinen Möglichkeiten. Uns allen gemein ist die Tendenz, festzuhalten, einzugrenzen und zu beschränken. Natürlich brauchen wir gewisse Strukturen zur Orientierung, also Landkarten der Wirklichkeit. Wir laufen aber ständig Gefahr, diese vereinfachten Abbilder der Wirklichkeit mit ihrer wahren Natur zu verwechseln und verbissen daran festzuhalten. Wenn sie uns dann genommen werden, bricht häufig die Welt für uns zusammen und ihre Trümmer drohen uns, zu erschlagen.
Unser Ich richtet unser Leben ein, baut einen imaginären Raum um uns herum, der uns Sicherheit, Geborgenheit und vor allen Dingen Kontinuität bietet, der uns gleichzeitig aber beschränkt. Nur, wenn wir offen sind, können wir diesen Raum verlassen, ihn von außen betrachten, umbauen und an neue Umstände anpassen. Meist sorgt das Ich jedoch dafür, dass wir an dem einmal konstruierten Raum festhalten und Angst uns daran hindert, weiterzugehen.

Wir wollen behalten, was uns vertraut ist, gleich ob Besitz, Einfluss, Beziehungen oder Weltbilder.
Veränderungen brechen dann über uns herein und werfen uns aus der Bahn. Ein Todesfall in der nächsten Umgebung, die Trennung vom Lebenspartner, der Verlust des Arbeitsplatzes, eine schwere Krankheit, all dies können Ereignisse sein, die uns zutiefst verunsichern und uns den so sicher geglaubten Boden unseres selbst konstruierten Raumes unter den Füßen hinwegziehen.

Sie zeigen uns, dass das Leben in ständigem Wandel begriffen ist. Diesem können wir uns anvertrauen und können dann mitgestalten oder wir können uns verweigern und in tiefe Depressionen fallen.
Wenn wir im Za-Zen auf unserem Kissen sitzen, fangen wir immer wieder neu an.

Anfänger sein heißt nicht, auf Erfahrenes und Bewährtes nicht zurückgreifen zu können, sondern sich immer wieder neu zu öffnen für das, was ist. Wir müssen dabei gar nichts leisten, nur loslassen, immer und immer wieder. Und loslassen bedeutet, dass wir uns zurücknehmen, dass wir unserem Ich weniger Bedeutung beimessen, es relativieren, indem wir unseren Horizont weiten und Raum für neue Einsichten schaffen. Wir tun das, indem wir nichts tun.

Wir schauen einfach auf unseren Atem. Aus der festen Basis, die unser Unterleib gründet, steigt unser Ausatem empor und vergeht. Der Einatem kommt und macht uns neu. Das ist alles.

Wer mit Mu oder einem Koan übt, läßt sie den Atem begleiten.
Jeder von uns ist ein Anfänger. Es gibt nichts Erreichtes, das wir festhalten können. Unsere Erfahrung ist wie ein immerwährender Fluss, unsere Wirklichkeit ist dieser Fluss, wir können ihn nicht aufhalten, denn wir sind es selbst, das da fließt.
Immer wieder neu anzufangen, bietet immer wieder neue Möglichkeiten. Wenn ich vertraue, gelingt es mir.

Ich brauche keine Angst zu haben, wenn ich das Geheimnis des Daseins erkenne.

Die Sonne scheint, weil sie scheint und ich liebe, weil ich liebe.
All das bleiben leere Worte und Appelle, solange ich es nicht selbst erfahre. Dafür brauche ich mein Kissen: ich setze mich einfach hin, schaue auf meinen Atem, er geht und kommt, immer wieder neu. Dann stehe ich wieder auf und setze meinen Alltag fort und siehe da:

Vieles wirkt plötzlich so neu,
meine Umgebung, meine Mitmenschen,
mein Denken und Tun.
Ich bin wieder in den Fluss gekommen.
Ich kann mein Leben wieder spüren.
Intuitiv kommen neue Erkenntnisse.
Nur Einatmen, nur Ausatmen!