Eigentlich wissen wir sehr viel von dem, worum es in unserem Leben geht, wobei „wissen“ vielleicht das falsche Wort ist, wir spüren es.
Dementsprechend ist Sprache ein eher ungeeignetes Mittel, zu verdeutlichen, worum es geht. Zumindest, solange sie mit Begriffen operiert, vor allem mit Substantiven.
Es geht nämlich im Lebendigen nicht um Zustände sondern um Prozesse, also scheinen Verben geeigneter. Oder Bilder, mit denen ich Inhalte teilen kann ohne sie näher zu beschreiben. Bilder verstehen wir eher, weil sie uns an etwas erinnern können, was wir schon kennen ohne es benennen zu können. Wenn wir sie einfach nur anschauen ohne sie auseinanderzunehmen und zu analysieren. Ähnlich verhält es sich mit Gedichten, die in ihrer Ganzheit wahrgenommen einen ganz anderen Zauber entfalten als bei der kritischen Analyse ihrer Teile. Letzteres kann ich natürlich machen, die Faszination eines Bildes oder eines Gedichts geht dabei aber verloren.
Und um Faszination geht es. Sich von der Wirklichkeit, so wie sie ist, faszinieren lassen, geht sehr viel weiter und tiefer als sich in der bloßen Realität nur zu orientieren. Auf einer gewissen, eben der oberflächlichen Ebene, müssen wir funktionieren. Das ist die Realität. Aber wenn wir leben wollen, können wir das nur in der Wirklichkeit. Wirklichkeit ist weit mehr als Realität. In ihr steckt die ganze Fülle des Lebens und damit auch das ganze Potenzial, alles das, was in diesem Augenblick wirkt und sich verwirklicht und auch alles das, was sich in diesem Augenblick verwirklichen könnte in einen Akt der Schöpfung.
Diese Art Schöpfung braucht keinen Schöpfer, sie braucht nur die Achtsamkeit des Augenblicks. Wo ich mich für die Tiefe eines Augenblicks öffne, wo ich mich im Nichts verwirkliche, „aufwachen“ nennen wir das im Zen, ist nur schöpfen. Da gibt es dann kein Ich mehr, da gibt es nur diesen einen Augenblick und in ihm die ganze Welt.
Auf einem spirituellen Weg wie dem Zen, wenn er denn authentisch ist, geht es um nichts anderes als zu leben. Als der zu sein, der ich bin, als der zu sein, in dem sich die Wirklichkeit in einer einmaligen und vollkommenen Form ausdrückt. Dieser Ausdruck findet immer in der Gegenwart statt, in diesem Augenblick gerade jetzt. Wir sind immer in der Gegenwart, auch wenn wir in der Erinnerungen oder Projektionen schwelgen. Nur, wir spüren es in der Regel nicht, wenn wir es nicht konkret üben.
Auch wenn wir glauben, zu leben, ist es doch eher so, dass wir unser Leben allerhöchstens im Griff haben. Häufig nicht einmal das, wenn wir uns leer, einsam und verzweifelt fühlen. Leben ist eben nicht das, was wir im Griff haben können. Begreifen können wir nur die Vorstellungen, die wir uns von dem Leben machen, eben die Begriffe mit denen wir Prozesse einzufangen versuchen. Leben ist aber etwas ganz anderes als das, was ich begreifen kann. Leben kann ich nur erleben, gerade jetzt.
Solange, wie ich nur begreife, entsteht die uns bekannte Welt, in der eine Vielzahl von Phänomenen scheinbar nebeneinander stehen und ich ihnen gegenüber. Das ist ein durchaus erfolgreiches Modell zu überleben, es hat uns die Zivilisation und die Technologie gebracht und stellt uns als Krone der Schöpfung scheinbar über alle und alles.
Mit unserem eigentlichen Leben hat das aber nichts zu tun. Es ist mehr eine Form von Ablenkung und wenn wir genau hinschauen, lenken wir uns den ganzen Tag davon ab, zu leben. Leben findet immer nur im Augenblick statt und um das zu erfahren, muss ich aufhören, diesen Augenblick zu fliehen.
Wenn wir Zazen üben, tun wir genau das. Wir üben Präsenz, es geht nur um diesen einen Atemzug und zu diesem kehre ich immer wieder zurück, sobald ich merke, dass ich mich davon gemacht habe.
Zazen bedeutet, zu lauschen, zu schauen und zu spüren. Das ist durchaus ganz sinnlich gemeint, denn über unsere Sinne erleben wir die Wirklichkeit. Wir erleben vor allem auch den Unterschied zwischen „erleben“ und „begreifen“. Unser Leben geht weit über das „begreifen“ hinaus. Vieles von dem, was ich erlebe, kann ich nicht beschreiben und ich kann es dennoch mit anderen teilen, die auf dem gleichen Weg sind.
Ich will diese Übung mit einem Bild verdeutlichen: Auf der Oberfläche des Meeres gibt es eine Vielzahl von Wellen. Sie entstehen und vergehen und jede von ihnen ist einmalig. Nun hat sich im Laufe der Evolution in jeder Welle die Fähigkeit entwickelt, ein Bewusstsein seiner selbst zu kreieren. Die Welle kann sich sozusagen von innen heraus anschauen und fragen: „Wer bin denn ich?“ Und irgendwann entwickelt sich als Antwort das Wort „Welle“. Mehr noch, wenn diese eine Welle nach außen schaut, dann sieht sie sich von einer Vielzahl anderer Wellen umgeben. Jede dieser Wellen steht für ein Phänomen der uns scheinbar umgebenden Welt.
Übertragen wir dieses Bild wieder auf unsere Realität, ist ein jeder von uns eine solche Welle. Ein erkennendes Subjekt, das einer Vielzahl von Objekten gegenüber steht. Mit diesen Objekten sind wir bereits in Beziehung oder versuchen, in Beziehung zu kommen und bestimmen dabei Nähe oder Distanz. Wir versuchen zu kommunizieren oder zu kooperieren oder uns von ihnen abzugrenzen.
Wenn wir uns beispielsweise verlieben, geht es um die Kommunion, wenn wir uns abgrenzen, weil wir uns bedroht fühlen, entsteht aus dieser Verengung Angst und unsere Reaktion kann bis zur Zerstörung dieses fremden Objekts gehen. Jeder, der schon einmal verliebt war, weiß, dass sich dieses Gefühl nicht über eine Beschreibung einfangen lässt. Wer noch nicht verliebt war, muss es eben erst erfahren, um zu verstehen, worum es geht.
Diese starke Kraft des Verliebtseins erinnert uns an etwas, das zutiefst in uns ist, von dem wir uns aber oft weit entfernt haben, das intuitive Wissen darüber, dass ich eins bin. Das, was ich also im Verliebtsein in einem anderen werden will, bin ich schon vom Ursprung an. Einssein und Leben und Liebe sind nichts als Synonyme.
Da mir das als Mensch in meiner Entwicklung aber häufig nicht bewusst ist, habe ich eine Vielzahl von Strategien entwickelt, um diese erahnte und ersehnte Einheit zu erfahren. Zu diesen Strategien zählen Macht und Gier, um die Welt und die Wirklichkeit meiner Kontrolle zu unterwerfen und sie zu beherrschen. All dies als Versuch, aus der Wirklichkeit zu flüchten und sie in ihrem Wirken aufzuhalten, um Einheit als Status zu erfahren. Aber, alles ist vergänglich, nichts lässt sich festhalten. Je mehr ich anhäufe, umso mehr zerrinnt es mir zwischen den Fingern.
Alles ist Prozess ohne jede Substanz. Es gibt keine Materie, also kann ich sie mir auch nicht aneignen. Ich kann mich allerdings mit meinen Strategien bewusst gegen die lebendigen Prozesse stellen. Aufhalten kann ich sie damit nicht, ich kann aber sehr viel Leid über alles bringen, was lebt. Wir Menschen können auf diesem Planeten der uns bekannten Lebenswelt ein Ende setzen und einen (vorübergehend) lebensfeindlichen staubigen Klumpen im Universum zurücklassen. Wir können aber auch unser Leben leben und feiern und mit ihm das Leben überhaupt.
Zurück zu unserem Bild mit den Wellen und zu unserem Weg. Wenn ich Zazen übe, also einfach nur sitze, lausche, schaue und spüre, erlebe ich das, was ist. Sind eine Vielzahl Geräusche um mich herum, lasse ich sie einfach kommen und gehen ohne sie zu benennen und festhalten zu wollen. Beim Schauen fokussiere ich nicht meinen Blick sondern lasse ihn weich werden und in der Weite des Raumes verweilen ohne etwas fixieren zu wollen. Das ist zu Beginn schwierig, gelingt aber bei fortschreitender Übung. Ich lausche und schaue einfach auf das, was ist. Nicht nur auf das, was scheinbar außen um mich herum ist sondern vor allen Dingen auf mein inneres Geschehen, das bestimmt wird von einer Vielzahl von Gedanken. Gedanken, die nichts anderes sind als Versuche, Wirklichkeit zu zergliedern, zu benennen und zu begreifen.
Wenn ich mich dabei auch als den Körper spüre, der ich bin, von meinen Füßen bis hinauf zum Kopf und wenn ich mich in diesem Spüren immer wieder lasse, das heißt, aus der Anspannung herausfinde, dann werde ich feststellen, dass sich auch die Gedankenaktivität beruhigt. Auf diese Weise tauche ich in die Tiefe, ich verlasse die Welt mit meinen Identifikationen und Zuschreibungen.
Im Rhythmus meines Atems lasse ich mich hinabsinken, ich schwebe und dabei lausche ich und schaue und stelle plötzlich fest, dass es unter der Oberfläche meines Daseins eine gewaltige Leere gibt wie das Wasser des Meeres unter einer aufgewühlten Oberfläche. Diese kann zunächst als still erfahren werden und aus dieser Stille tauchen immer wieder subtile Signale auf, die mit meinen Gedanken gar nichts zu tun haben, die mich aber sehr komplex und intuitiv erfahren lassen, worum es eigentlich geht. Besonders jeder, der kreativ tätig ist, kennt diese schöpferischen Signale, die einen immer wieder ausfüllen und zur Tat schreiten lassen.
Angekommen in dieser Leere erfahre ich, dass sie die ganze Fülle ist, die ganze Fülle in einer unendlichen Stille, in der sich dennoch alles zeitlos manifestiert. Aber es ist ein Prozess und ich bin dieser eine schöpferische Prozess und das ist schon alles.