Lauschen – Schauen – Spüren

Eigentlich wissen wir sehr viel von dem, worum es in unserem Leben geht, wobei „wissen“ vielleicht das falsche Wort ist, wir spüren es. 
Dementsprechend ist Sprache ein eher ungeeignetes Mittel, zu verdeutlichen, worum es geht. Zumindest, solange sie mit Begriffen operiert, vor allem mit Substantiven.
Es geht nämlich im Lebendigen nicht um Zustände sondern um Prozesse, also scheinen Verben geeigneter. Oder Bilder, mit denen ich Inhalte teilen kann ohne sie näher zu beschreiben. Bilder verstehen wir eher, weil sie uns an etwas erinnern können, was wir schon kennen ohne es benennen zu können. Wenn wir sie einfach nur anschauen ohne sie auseinanderzunehmen und zu analysieren. Ähnlich verhält es sich mit Gedichten, die in ihrer Ganzheit wahrgenommen einen ganz anderen Zauber entfalten als bei der kritischen Analyse ihrer Teile. Letzteres kann ich natürlich machen, die Faszination eines Bildes oder eines Gedichts geht dabei aber verloren. 
Und um Faszination geht es. Sich von der Wirklichkeit, so wie sie ist, faszinieren lassen, geht sehr viel weiter und tiefer als sich in der bloßen Realität nur zu orientieren. Auf einer gewissen, eben der oberflächlichen Ebene, müssen wir funktionieren. Das ist die Realität. Aber wenn wir leben wollen, können wir das nur in der Wirklichkeit. Wirklichkeit ist weit mehr als Realität. In ihr steckt die ganze Fülle des Lebens und damit auch das ganze Potenzial, alles das, was in diesem Augenblick wirkt und sich verwirklicht und auch alles das, was sich in diesem Augenblick verwirklichen könnte in einen Akt der Schöpfung.
Diese Art Schöpfung braucht keinen Schöpfer, sie braucht nur die Achtsamkeit des Augenblicks. Wo ich mich für die Tiefe eines Augenblicks öffne, wo ich mich im Nichts verwirkliche, „aufwachen“ nennen wir das im Zen, ist nur schöpfen. Da gibt es dann kein Ich mehr, da gibt es nur diesen einen Augenblick und in ihm die ganze Welt. 
Auf einem spirituellen Weg wie dem Zen, wenn er denn authentisch ist, geht es um nichts anderes als zu leben. Als der zu sein, der ich bin, als der zu sein, in dem sich die Wirklichkeit in einer einmaligen und vollkommenen Form ausdrückt. Dieser Ausdruck findet immer in der Gegenwart statt, in diesem Augenblick gerade jetzt. Wir sind immer in der Gegenwart, auch wenn wir in der Erinnerungen oder Projektionen schwelgen. Nur, wir spüren es in der Regel nicht, wenn wir es nicht konkret üben. 
Auch wenn wir glauben, zu leben, ist es doch eher so, dass wir unser Leben allerhöchstens im Griff haben. Häufig nicht einmal das, wenn wir uns leer, einsam und verzweifelt fühlen. Leben ist eben nicht das, was wir im Griff haben können. Begreifen können wir nur die Vorstellungen, die wir uns von dem Leben machen, eben die Begriffe mit denen wir Prozesse einzufangen versuchen. Leben ist aber etwas ganz anderes als das, was ich begreifen kann. Leben kann ich nur erleben, gerade jetzt.
Solange, wie ich nur begreife, entsteht die uns bekannte Welt, in der eine Vielzahl von Phänomenen scheinbar nebeneinander stehen und ich ihnen gegenüber. Das ist ein durchaus erfolgreiches Modell zu überleben, es hat uns die Zivilisation und die Technologie gebracht und stellt uns als Krone der Schöpfung scheinbar über alle und alles.
Mit unserem eigentlichen Leben hat das aber nichts zu tun. Es ist mehr eine Form von Ablenkung und wenn wir genau hinschauen, lenken wir uns den ganzen Tag davon ab, zu leben. Leben findet immer nur im Augenblick statt und um das zu erfahren, muss ich aufhören, diesen Augenblick zu fliehen. 

Wenn wir Zazen üben, tun wir genau das. Wir üben Präsenz, es geht nur um diesen einen Atemzug und zu diesem kehre ich immer wieder zurück, sobald ich merke, dass ich mich davon gemacht habe.
Zazen bedeutet, zu lauschen, zu schauen und zu spüren. Das ist durchaus ganz sinnlich gemeint, denn über unsere Sinne erleben wir die Wirklichkeit. Wir erleben vor allem auch den Unterschied zwischen „erleben“ und „begreifen“. Unser Leben geht weit über das „begreifen“ hinaus. Vieles von dem, was ich erlebe, kann ich nicht beschreiben und ich kann es dennoch mit anderen teilen, die auf dem gleichen Weg sind. 
Ich will diese Übung mit einem Bild verdeutlichen: Auf der Oberfläche des Meeres gibt es eine Vielzahl von Wellen. Sie entstehen und vergehen und jede von ihnen ist einmalig. Nun hat sich im Laufe der Evolution in jeder Welle die Fähigkeit entwickelt, ein Bewusstsein seiner selbst zu kreieren. Die Welle kann sich sozusagen von innen heraus anschauen und fragen: „Wer bin denn ich?“ Und irgendwann entwickelt sich als Antwort das Wort „Welle“. Mehr noch, wenn diese eine Welle nach außen schaut, dann sieht sie sich von einer Vielzahl anderer Wellen umgeben. Jede dieser Wellen steht für ein Phänomen der uns scheinbar umgebenden Welt. 
Übertragen wir dieses Bild wieder auf unsere Realität, ist ein jeder von uns eine solche Welle. Ein erkennendes Subjekt, das einer Vielzahl von Objekten gegenüber steht. Mit diesen Objekten sind wir bereits in Beziehung oder versuchen, in Beziehung zu kommen und bestimmen dabei Nähe oder Distanz. Wir versuchen zu kommunizieren oder zu kooperieren oder uns von ihnen abzugrenzen.
Wenn wir uns beispielsweise verlieben, geht es um die Kommunion, wenn wir uns abgrenzen, weil wir uns bedroht fühlen, entsteht aus dieser Verengung Angst und unsere Reaktion kann bis zur Zerstörung dieses fremden Objekts gehen. Jeder, der schon einmal verliebt war, weiß, dass sich dieses Gefühl nicht über eine Beschreibung einfangen lässt. Wer noch nicht verliebt war, muss es eben erst erfahren, um zu verstehen, worum es geht. 
Diese starke Kraft des Verliebtseins erinnert uns an etwas, das zutiefst in uns ist, von dem wir uns aber oft weit entfernt haben, das intuitive Wissen darüber, dass ich eins bin. Das, was ich also im Verliebtsein in einem anderen werden will, bin ich schon vom Ursprung an. Einssein und Leben und Liebe sind nichts als Synonyme.
Da mir das als Mensch in meiner Entwicklung aber häufig nicht bewusst ist, habe ich eine Vielzahl von Strategien entwickelt, um diese erahnte und ersehnte Einheit zu erfahren. Zu diesen Strategien zählen Macht und Gier, um die Welt und die Wirklichkeit meiner Kontrolle zu unterwerfen und sie zu beherrschen. All dies als Versuch, aus der Wirklichkeit zu flüchten und sie in ihrem Wirken aufzuhalten, um Einheit als Status zu erfahren. Aber, alles ist vergänglich, nichts lässt sich festhalten. Je mehr ich anhäufe, umso mehr zerrinnt es mir zwischen den Fingern. 
Alles ist Prozess ohne jede Substanz. Es gibt keine Materie, also kann ich sie mir auch nicht aneignen. Ich kann mich allerdings mit meinen Strategien bewusst gegen die lebendigen Prozesse stellen. Aufhalten kann ich sie damit nicht, ich kann aber sehr viel Leid über alles bringen, was lebt. Wir Menschen können auf diesem Planeten der uns bekannten Lebenswelt ein Ende setzen und einen (vorübergehend) lebensfeindlichen staubigen Klumpen im Universum zurücklassen. Wir können aber auch unser Leben leben und feiern und mit ihm das Leben überhaupt. 
Zurück zu unserem Bild mit den Wellen und zu unserem Weg. Wenn ich Zazen übe, also einfach nur sitze, lausche, schaue und spüre, erlebe ich das, was ist. Sind eine Vielzahl Geräusche um mich herum, lasse ich sie einfach kommen und gehen ohne sie zu benennen und festhalten zu wollen. Beim Schauen fokussiere ich nicht meinen Blick sondern lasse ihn weich werden und in der Weite des Raumes verweilen ohne etwas fixieren zu wollen. Das ist zu Beginn schwierig, gelingt aber bei fortschreitender Übung. Ich lausche und schaue einfach auf das, was ist. Nicht nur auf das, was scheinbar außen um mich herum ist sondern vor allen Dingen auf mein inneres Geschehen, das bestimmt wird von einer Vielzahl von Gedanken. Gedanken, die nichts anderes sind als Versuche, Wirklichkeit zu zergliedern, zu benennen und zu begreifen. 
Wenn ich mich dabei auch als den Körper spüre, der ich bin, von meinen Füßen bis hinauf zum Kopf und wenn ich mich in diesem Spüren immer wieder lasse, das heißt, aus der Anspannung herausfinde, dann werde ich feststellen, dass sich auch die Gedankenaktivität beruhigt. Auf diese Weise tauche ich in die Tiefe, ich verlasse die Welt mit meinen Identifikationen und Zuschreibungen. 
Im Rhythmus meines Atems lasse ich mich hinabsinken, ich schwebe und dabei lausche ich und schaue und stelle plötzlich fest, dass es unter der Oberfläche meines Daseins eine gewaltige Leere gibt wie das Wasser des Meeres unter einer aufgewühlten Oberfläche. Diese kann zunächst als still erfahren werden und aus dieser Stille tauchen immer wieder subtile Signale auf, die mit meinen Gedanken gar nichts zu tun haben, die mich aber sehr komplex und intuitiv erfahren lassen, worum es eigentlich geht. Besonders jeder, der kreativ tätig ist, kennt diese schöpferischen Signale, die einen immer wieder ausfüllen und zur Tat schreiten lassen. 
Angekommen in dieser Leere erfahre ich, dass sie die ganze Fülle ist, die ganze Fülle in einer unendlichen Stille, in der sich dennoch alles zeitlos manifestiert. Aber es ist ein Prozess und ich bin dieser eine schöpferische Prozess und das ist schon alles. 

Monster

Ein Anschlag folgt auf den anderen. Immer sterben Menschen dabei, die ihr Leben noch lange weiterleben, ihre Möglichkeiten verwirklichen wollten. Kein Tag vergeht, ohne das irgendwo auf der Welt Menschen von anderen Menschen angegriffen und grausam getötet werden. Wer gibt den Tätern das Recht, anderen ihr Leben zu nehmen? 
Solange wir das nur in den Nachrichten hörten, konnten wir uns recht gut davon abwenden, mittlerweile kommen die Einschläge aber immer näher und viele bei uns fühlen sich bedroht und verunsichert. Überall kann es einen treffen, Hysterie breitet sich aus, es scheint keinen sicheren Ort mehr zu geben und die meisten Medien tun alles dafür, sich in den Dienst der Täter zu stellen, denen es um maximale Aufmerksamkeit geht. Diese scheuen ihren eigenen Tod nicht und versuchen dabei so viele andere Menschen wie möglich mitzunehmen. Weder Kinder noch Alte werden verschont und auch ein Glaubensbekenntnis, egal in welcher Richtung ist keine Garantie auf das Überleben. Wenn der Hass einmal entzündet ist, scheint er sich erst im eigenen Verlöschen aufzulösen, gleich ob jemand in einer persönlichen Krise Amok läuft oder aus ideologischen Gründen Angst und Schrecken verbreiten will.  

Wie ist das möglich? Was sind das für Monster? Wie können diese Menschen nur so unmenschlich sein? Was heißt überhaupt „unmenschlich“? Sind es nicht gerade wir Menschen, die diese Taten vollbringen? Oder hat es im Laufe der Evolution jemals ein solch grausames und unbarmherziges Wesen gegeben wie uns? 

Andererseits hat jeder von uns eine bestimmte Vorstellung von Menschlichkeit. Wir wissen also tief drinnen in uns selbst, was wir zu tun zu haben, um unserer eigentlichen Bestimmung als Mensch zu folgen. Wir wissen intuitiv von richtig und falsch und wir kennen den Weg des Mitgefühls und der Barmherzigkeit. Warum dann nur folgen wir immer wieder unserer Gier, unserem Hass und unserer Sehnsucht nach Tod und Zerstörung? Oder würden „wir“ das nie tun? Sind es immer nur die anderen, Monster eben, böse, krank, ideologisch fixiert? 

Wenn wir davon ausgehen, dass wir die Lebensform sind, in der das Leben sich selbst zu erkennen sucht, so ist uns auch die Freiheit gegeben, sich gegen das Leben und damit gegen uns selbst zu wenden. Wir sind der evolutionäre Versuch, die Liebe zu erkennen, die uns geboren hat und in dieser Erfahrung aufzuwachen und ihr gemäß zu handeln. Da wir uns dieser Erkenntnis aber auch verweigern können oder sie nur rudimentär vollziehen und falsch interpretieren, sind wir aus der uns gründenden Ein-heit in den Zwei-fel gefallen und stellen uns der Wirklichkeit gegenüber statt in ihr zu wirken. Diesen Verlust der Einheit, unserer „Vertreibung aus dem Paradies“ versuchen wir mit der Vorstellung eines Ichs zu kompensieren, dass als substanzielles Subjekt mit einer getrennten und überwiegend fremden, wenn nicht gar feindlichen Umwelt konfrontiert wird, die um des eigenen Überlebenswillen beherrscht und unterworfen werden muss. 

Nun gibt es uns als Spezies Mensch schon ein Weilchen und wir haben uns im Laufe der Evolution zivilisiert und fallen in der Regel nicht mehr über jeden her, der vorüberläuft. Wir haben gelernt, zu kooperieren und nutzen das zur Bildung kleiner und größerer Gemeinschaften, um sich effektiver vor tatsächlichen oder eingebildeten Gefahren zu schützen. Der Überlebenskampf läuft nun subtiler und ist häufig einem Wettbewerb gewichen, in dem es nicht mehr um Leben oder Tod sondern nur noch um Macht und Einfluss geht, allerdings immer auf Kosten anderer. Wir konkurrieren um Besitz, Sex und Kontrolle. Dabei gibt es nur wenige Gewinner, die allerdings früher oder später erschreckt feststellen müssen, das Schönheit wie Macht wie Reichtum vorübergeht, vor allem aber das Leben und das das Sterben auch eines noch so mächtigen Egos vielleicht aufzuhalten aber nicht abzuwenden ist. Am Ende schufen all die Gier und all die Leidenschaften nur das, was letzteres im Wort schon impliziert, also doch Sisyphos?

Zurück zu den Monstern, die wir mit diesem Begriff aus unserer Menschlichkeit ausschließen wollen, weil sie sich doch so sehr aus ihr entfernt haben. Aber wie sehr unterscheiden wir uns tatsächlich von diesen Mördern, die sich in eigener Glorifizierung das Recht herausnehmen, über Leben und Tod zu entscheiden? 

Wie stark ist eigentlich diese zivilisatorische Schicht in uns uns und wie flüchtig ist sie, sieht man sich nur mal die Konflikte der vergangenen Jahrzehnte an, in denen hochzivilisierte Gesellschaften in kürzester Zeit zusammenbrachen und ihre Mitglieder auf grausamste Art und Weise übereinander herfielen und es gerade jetzt auch tun? Alles Monster? Und es ist nicht immer eine Ideologie oder eine Religion, in deren Namen das geschieht. Diese müssen nur immer wieder herhalten, um Menschen zu verdummen und zu entmündigen statt sie zu eigener Erfahrung und eigener Verantwortung zu führen.

Gier, Hass und Verblendung scheinen grenzenlos und sie sind in jedem von uns, solange wir uns von unseren Vorstellungen blenden lassen, ein getrenntes Individuum zu sein. Vor ein paar Jahren wurde einer meiner wichtigsten Lehrmeister, Frère Roger de Taizé ermordet, von einer Frau, die anschließend als geistesgestört bezeichnet wurde und dann strafrechtlich als nicht verantwortlich galt. Ein Monster? Niemand hat das Recht, einem anderen sein Leben zu nehmen, aber das gilt immer und überall und auch für diejenigen, die sich nicht daran halten. Zwei Jahre nach der Ermordung von Frère Roger, tötete ein Freund und Nachbar auf besonders grausame Weise seine Kinder und seine Frau. Er galt nicht als geistig gestört, war auch nicht ideologisch oder religiös motiviert und galt bis zu seiner Tat als unauffälliges Mitglied unserer Gesellschaft und hatte als Pädagoge und Therapeut gearbeitet. Ein Monster? 

Wir müssen sehr achtsam in uns selbst hineinschauen, um unsere Gefühle von Angst und Verzweiflung, von Kränkung und Verletzung zu klären, bevor sie sich als Monster nach außen richten. Wir müssen herausfinden, wer wir wirklich sind. Immer wieder, immer weiter, immer tiefer. Tun wir das nicht, laufen wir zumindest Gefahr, irgendwann die Kontrolle über unsere Aggressionen zu verlieren. Attentäter und Terroristen sind immer auch gekränkte und verletzte Seelen und nicht nur ideologisch verführte Menschen. Es ist ihnen nicht gelungen, sich von ihren Erfahrungen und daraus entstandenen Gefühlen zu lösen, mehr noch, sie instrumentalisieren sie oder lassen sich instrumentalisieren, um ihr eigenes Leid möglichst vielen anderen zuzufügen und sich zu rächen. Sie sitzen fest in dem engen Tunnel Ihrer Vorstellungen und pumpen soviel Energie darein, bis sie im wahrsten Sinne auseinanderliegen. 

Aus unserer Zen-Erfahrung wissen wir, ein jeder von uns ist das ganze Leben, dass sich jeden Augenblick in einer unendlichen Vielzahl von Formen und Ereignissen zeigt. Damit schließen wir aber auch jeden Mörder und jeden Terroristen ein, als Gedanke nicht nachvollziehbar. Es gibt im Grunde keinen Unterschied. Ein jeder ist aus der Liebe geboren und niemand fällt aus ihr heraus, mag er auch noch so sehr von seinem Hass bestimmt sein oder sich einfach zum selbstlosen Werkzeug verbohrter Ideologen zu machen, die einen aus klimatisierten Hotellobbys in den Tod schicken. 

Jeder ist für sich selbst verantwortlich und damit auch dafür, zu seinem wahren Wesen aufzuwachen und das zu tun, was zu tun ist. Das gelingt häufig nicht, auch wenn die Folgen in den allermeisten Fällen nicht so dramatisch sind, aber immer mit Leiden verbunden. Wenn wir nicht genau hinschauen, tragen wir das Monster in uns und stärken es, wenn wir uns von ihm abgrenzen und es zu verdrängen versuchen. Es in sich zu erfahren und sich dem eigenen Schatten zu stellen, löst es auf. Wir können dem Schmerz nicht entkommen, aber wir müssen ihn nicht festhalten. 

Das sind provozierende und verwirrende Aussagen, denen wir mit unserem normalen Verstand nicht folgen können. Im wahren Wesen gibt es kein Richtig oder Falsch, aber auch kein Leben und kein Sterben. Sterben kann immer nur diese eine Form, dieser eine Körper, der wir sind. Kein Grund, darauf Einfluss zu nehmen. Wir sind das Leben, dass sich zu verwirklichen sucht. Dem sollten wir mit ganzem Herzen folgen. 

Enttäuschung

Es gibt ein neues Buch in der unüberschaubaren spirituellen Bücherszene, das von Alexander Poraj geschrieben wurde, der gleichfalls Zen-Meister in der Nachfolge von Willigis Jäger ist und spiritueller Leiter des Zentrums für Achtsamkeit und Meditation Benediktushof Holzkirchen. 
Dieses Buch lohnt sich zu lesen. Vor allem für diejenigen, die an Zen interessiert sind oder die sich schon immer gefragt haben und immer noch fragen: „Was soll das alles? Warum bin ich hier?“
In einer klaren Sprache, fernab von jedem spirituellen Barock, gibt Alexander Poraj Einblick in seine Art zu denken. Mehr noch, er führt den Leser über sein Denken hinaus zu, in die Stille. 

Es fällt nicht immer leicht zu folgen, nicht weil der Autor in seiner brillanten Art komplexe Zusammenhänge so kompliziert formuliert sondern weil er so kurz und treffend das Wesentliche auf den Punkt bringt. 

Ist das wirklich so einfach, mag man sich etwas verblüfft fragen? Um dann wieder seinen eigenen Vorstellungen auf den Leim zu gehen. 

Genau darum geht es, Täuschungen aufzugeben, immer und immer wieder und aufzuhören, Vorstellungen von der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit als solche zu verwechseln. Zen geschieht da, wo uns das gelingt, einfach in der Wirklichkeit gerade jetzt zu sein und nicht Schauspieler und Regisseur im eigenen Film. 

Auf jeden Fall ist das Buch ein wunderbares Konzept über unsere Art und Weise, Konzepte zu entwerfen und zu leben, also über unser Leben. 

Aus der Literatur über Zen ragt es hinaus. Mit Ausnahme einiger Zitate aus dem Herzsutra und dem Shinjinmai nimmt es keinen Bezug zur Tradition. Es ist ein Buch geschrieben aus dem Herzgeist. 

Dieses Buch ist Zen, so nackt und nüchtern und einfach, wie Zen ist. Schaut man wirklich, offenbart sich das Herz, durch alle Worte hindurch. 

Missverständnis

Das Missverständnis beruht auf dem Glauben, dass nach der sogenannten Erfahrung der „Erleuchtung“ sich irgendwie ein qualitativ grundsätzlich anderes Verhältnis zu sich selbst und der Wirklichkeit offenbart. Vor allem in der Weise, dass alles möglich ist oder eben nichts, weil ich letztlich alles bin oder nichts. 
Alles ist dann richtig und Falsches kann es nicht mehr geben. Wenn einer also identisch wird mit Buddha und den Patriarchen, kann der also keine Fehler mehr machen und ist befreit von allen Normen? Eine solche Vorstellung befriedigt unser Bedürfnis, unsere Ideale auf jemand anderen zu projizieren, den ich dann zu einer Lichtgestalt der Verehrung und Nachfolge mache. Davon gibt es viele Beispiele. 

In der Erfahrung der Erleuchtung geht es aber darum zu erfahren, dass ich bereits Buddha bin von Anbeginn an. Da geht es nicht um werden, vor allen Dingen geht es nicht um irgend eine Art von Vervollkommnung, weil ich war und bin schon immer vollkommen. 

Wenn ich das also erfahre, dass ich schon immer vollkommen bin, dann bezieht sich diese Erfahrung eben nicht auf die Vorstellung von mir selbst sondern diese Erfahrung geht über jede Vorstellung hinaus und bezieht alles Denkbare und Undenkbare mit ein, das ganze Universum und mit ihm die gesamte Vielfalt unserer phänomenalen Welt. 

Und gerade aus dieser Erfahrung entsteht dann eine kraftvolle Ethik des Handelns, die versucht, Leiden egal in welcher Form zu vermindern und kein weiteres zu schaffen, allerdings im Bewusstsein dessen, das eine absolute Freiheit vom Leiden erst dann möglich ist, wenn alle Menschen erkannt haben, warum es in ihrem Leben eigentlich geht. Mit Leiden ist hier nicht der Schmerz und die Trauer gemeint sondern ein Leiden an meinem Leben, weil es nicht meinen Vorstellungen entspricht. 

In dem Moment, wo ich an der Illusion meines Ich hafte, geschieht Leiden. Wenn ich diese Illusion überwinde, überwinde ich auch Leben und Tod und dann bin ich einfach hier in diesem zeitlosen Augenblick. Das hindert mich dann nicht, in meinem Alltag Fehler zu machen, also in einer Weise zu handeln, die nicht allen möglichen Interessen anderer entspricht. Das ist schlicht und einfach unmöglich. 

Aber ich kann das tun, was mir jetzt möglich ist im Bewusstsein dessen, wer ich bin und innerhalb eines Prozesses, in dem alle Formen des Lebens sich immer wieder zu immer weiterer Komplexität entfalten und wieder vergehen. Innerhalb dieses Prozesses gibt es auch ethische Normen, die wie alles andere einer kontinuierlichen Entwicklung und Veränderung unterworfen sind aber an die zu halten, sinnvoll und richtig ist. 

Konkreter, man könnte auch sagen, dass Erleuchtung und Erwachen nichts anderes ist als die absolute Erfahrung der Liebe als Ursprung und Augenblick unseres Daseins. Der Liebe, die uns kreiert und jede andere Form auch, geht es um einen respektvollen, fürsorglichen und verantwortungsvollen Umgang miteinander. 

Da es keine Trennung gibt zwischen mir und dem anderen, fallen die Auswirkungen jede meiner Handlungen auf mich selbst zurück und auf den Ursprung. Wie könnte ich jemals im Bewusstsein dessen gegen die Liebe handeln? Wir haben als menschliche Spezies, als diese sich relativ neu entwickelte Lebensform eines zeitlosen Universums, die Freiheit, gegen dieses Prinzip der Liebe zu handeln mit Hass, Gewalt und Mord. Unser Handeln ist unser Karma. 

Wir bleiben sogar, auch wenn wir gegen sie handeln, eingebunden in diese universale Liebe und fallen nicht aus ihr heraus in eine wie auch immer geartete Hölle. Aber dort leben wir bereits in einer besonders extremen Form des Leidens, solange wir die uns gegebene Freiheit nutzen, nicht sehen zu wollen, was ist. Auch das Anhaften an unserem Ich, die Identifikation mit bestimmten Vorstellungen ist letztendlich nichts anderes als eine Manifestation der Liebe, als ein Ausdruck Buddhas. Diese paradoxe Tatsache zu durchschauen und sich in diesem Augenblick davon zu lösen, ist Erleuchtung. 

Ich selbst muss immer wieder achtsam schauen, was mir zu tun möglich ist. Achtsam mit mir selber umgehen, so wie ich es verstehe, ist kein mit mir selber umgehen im Sinne eines eingeschränkten Verständnisses von mir selbst als isoliertes Wesen. Wenn ich achtsam bin und das ist eine Haltung, die ich üben muss, dann weiß ich zumindest etwas mehr davon, was ich zu tun habe. Und das, was ich zu tun habe, versucht immer eine Vielzahl von Lebensinteressen einzubeziehen. Es kann aber niemals ideal sein und frei von Widersprüchen, es bleibt immer auch begrenzt und fällt in seiner Wirkung früher oder später auf mich zurück. Manchmal sag ich ja, manchmal nein, manchmal bin ich gerecht, dann wieder ungerecht, manchmal bewege ich mich, manchmal bleibe ich sitzen. Vieles passt und doch gibt es auch Fehler. Ich muss für mich, so wie ich als Mensch bin, als dieser individuelle und einmalige Ausdruck des unendlichen Lebens, meine Möglichkeiten und Grenzen, körperlich, geistig und seelisch immer wieder neu kennenlernen und ausloten. Ich brauche einen Rhythmus, Zeiten der Ruhe und Zeiten der Bewegung, Zeiten der Stille und Zeiten der Trommeln, Zeiten des Singens und Tanzens, des Kämpfen und der Ruhe, aber dabei muss ich bei mir bleiben, im Fluss bleiben, achtsam sein. Das ganze ist doch ein Spiel, das Spiel des Lebens und dazu gehört auch der Schmerz und der Tod. Das ist nicht zynisch gemeint. Ich habe zu tun, was mir möglich ist, aber ich kann, so schwer das fallen mag, nicht alle Lebewesen retten und muss immer wieder ohnmächtig zuschauen, wie sie bereits lange vor ihrer Vollendung sterben. Ich gelobe, sie vom Leid zu befreien. Darum geht es. 

Und dann?

Erwachen bedeutet absolute Nichtidentifikation. Ich hänge an nichts mehr fest, ich bin absolut frei und fließend. Keine Konzepte!

Aber meine Tendenz zur Identifikation holt mich schnell und vor allen Dingen subtil wieder ein. Ich brauche nur zu denken, ich bin erwacht und schon bin ich identifiziert, hänge ich ein weiteres Mal fest. Und meine Nase trage ich wieder ein Stück höher. 

Was bedeutet es, zu erwachen? Es bedeutet nichts, nichts, nichts. Das einzige, wozu Erwachen gut sein kann, ist die Umsetzung unseres Bodhisattva-Gelübdes in ein alltägliches Handeln zum Wohle aller! Die gelingt aber nur, wenn ich an nichts festhalte und einfach das tue, was zu tun ist.

Was ist das Bodhisattva-Gelübde? Die vier großen Gelübde sind ein häufig rezitierter Text im Buddhismus und im Zen, vor allem während Sesshins. Sie geben Hinweise und eine Ausrichtung. 
Zahllos sind die Lebewesen, ich gelobe, sie vom Leid zu befreien.

Grenzenlos sind die Verhaftungen, ich gelobe, sie alle zu lassen.

Unzählbar sind die Tore der Wahrheit, ich gelobe, sie zu durchschreiten.

Unübertroffen ist der Weg des Erwachens, ich gelobe, ihn zu gehen.
Was soll denn ein Gelübde, und dann noch so eins? Ein Gelübde ist ein Versprechen, sich an ein bestimmtes Verhalten oder an bestimmte Regeln zu halten. Dabei hören wir doch im Zen immer, lebe aus deiner spirituellen Erfahrung, tue, was zu tun ist!  

Alles richtig, das Wesentliche ist die eigene spirituelle Erfahrung, eins zu sein mit allem und das Leben als solches in seiner ganzen Fülle. Daraus ergibt sich eben sehr viel Verantwortung und ein natürliches ethisches Verhalten, ohne dass ein strenges System von Verboten und Geboten befolgt werden muss. Auf der anderen Seite schätzen wir aber auch unsere Tradition, ihre Texte und Überlieferungen. Wir müssen allerdings lernen, unsere Tradition zu verstehen und zu übertragen in unser Leben jetzt. Hinter jedem einzelnen von uns stehen unzählige Generationen. Was unser spirituelles Erbe angeht, so verdanken wir ihm viele Hinweise für unsere Praxis und unseren Weg. Wenn wir diese Hinweise aber nicht für unseren Alltag jetzt deuten können, nützen Sie uns nichts.

Nach der Überlieferung ist ein „Bodhisattva“ ein Erwachter, der nach seiner Erfahrung alles dafür tut, dass auch andere an dieser Erfahrung teilhaben. Für uns heute bedeutet das, wir begegnen dem Leben in all seinen Erscheinungen und Formen mit Liebe und Mitgefühl. Nichts anderes bedeutet der erste Satz des Gelübdes: „Ich gelobe, sie vom Leid zu befreien“. Das bedeutet nicht, in blinden Aktionismus zu verfallen oder gar andere Menschen zu missionieren und sie von einem wahren Weg überzeugen zu wollen. „Vom Leid befreien“ bedeutet auch nicht, dass ich mir selbst und anderen Lebewesen alle körperlichen und seelischen Schmerzen nehme. Das könnte ich niemals. Es bedeutet vor allem, sich selbst von allen Illusionen frei zu machen und zur wahren Erkenntnis durchzubrechen. Es gibt niemanden, der leiden könnte und doch gibt es den Schmerz. Indem ich einfach das Leben verkörpere, das ich bin, in dem ich einfach das tue, was zu tun ist, ist alles vollendet. Und natürlich bedeutet das auch, dass ich mich allen konkreten Herausforderungen meines Alltags stelle und für das Leben in jeder Form eintrete. Ich kann mich jeden Tag für soziale und ökologische Gerechtigkeit und für die Freiheit jedes einzelnen einsetzen. 

Im zweiten Satz sind die „Verhaftungen“ angesprochen, von denen ich mich immer wieder zu lösen habe. Verhaftungen sind nichts anderes als alle meine Illusionen, die ich mir mache, alle meine Konzepte von der Wirklichkeit und alle Identifikationen, auf dich immer und immer wieder hereinfalle. Immer wieder neu kann ich sie lassen. 

Im dritten Satz gelobe ich, die „unzählbaren Tore der Wahrheit zu durchschreiten“. Jeder Augenblick, jede Situation, jedes Phänomen, jedes Ding, jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, diese Blume dort oder der Schmetterling oder dieser Mensch, der mir gerade begegnet, ist ein Tor der Wahrheit. Wenn ich nur eins von den vielen wirklich durchschaut habe, habe ich alle durchschaut. Wenn ich nur ein Tor ganz durchschritten habe, habe ich alle durchschritten. In jedem Augenblick kann ich aufwachen zu dem, was ich schon immer wesenhaft bin.

In der vierten Zeile gelobe ich schließlich, den „unübertroffenen Weg des Erwachens“ zu gehen. Das ist der Weg, den uns Buddha Siddhartha Gautama, alle Patriarchen und Zen-Meister und alle Erwachten vor uns gewiesen haben. 

Das ist der Weg unserer Übung, 

unser stilles Sitzen,

unser Za-Zen. 

Erwachen!

Dazu lässt sich so viel sagen und absolut nichts. Erwachen ist das Erfahren der unmittelbaren Wirklichkeit, es geht um das, was ist und wie es ist. Dies zu erklären, ist schlichtweg unmöglich. Dennoch lässt sich mit Worten ein wenig (!) umschreiben. Diese Worte sind aber niemals vollständig und können auch nicht adäquat ausdrücken, worum es geht.
Worte sind dazu da, Phänomenen eine mehr oder weniger klare Bedeutung zu geben, damit ich und andere, mit denen ich mich austausche, Inhalte erkennen können. Das geht aber nur, indem ich abgrenze, eingrenze, voneinander unterscheide. 

Das eine Ganze, das unteilbare Eine, das Eine ohne ein Zweites, die Nicht-Zweiheit oder wie auch immer, lässt sich auf diese Weise nicht beschreiben, jedenfalls nicht umfassend, weil jede Beschreibung eben eine Eingrenzung ist. Bei dem Erfahren, um das es geht, geht es aber um ein Erfahren ohne jede Grenze und ohne jeden Inhalt und ohne jede Bedeutung. Und dieses Sosein versuchen wir beispielsweise zu umschreiben mit dem Begriff „Leere“ oder Begriff „Nichts“. Es ist ein Erfahren, das leer ist von allem. Darin gibt es kein Ding. 

Gleichzeitig umschließt dieses Erfahren aber alles, was überhaupt erfahrbar sein könnte. Also auch jedes Blabla. In diesem Erfahren fällt alles auf einen Punkt zusammen und gleichzeitig umfasst dieses Erfahren eine unendliche Weite. Aber auch das wieder falsch gesagt, weil es überhaupt keine Zeit gibt, innerhalb dessen irgendetwas geschieht. Dieses Erfahren ist absolut zeitlos. Ohne Anfang und ohne Ende. Wenn ich also von einem Prozess spreche, dann ist es ein Prozess ohne Anfang und ohne Ende. Mit Prozess gemeint ist in Bewegung sein, dennoch ist dieses Erfahren absolut still. In der Leere und in der Stille ist nichts in Bewegung. Also könnte ich auch von einem Zustand sprechen. Da ich dieses Erfahren aber immer wieder aktualisieren kann und muss, spreche ich lieber von einem Prozess. Damit vermeide ich einen großen Fehler, nämlich zu glauben, mit einer Erfahrung sei alles getan. Sicher, einmal aufgewacht ist immer aufgewacht, einmal erleuchtet es immer erleuchtet. Aber es gilt auch, wir sind von Anbeginn erleuchtet, wir sind von Anbeginn aufgewacht, von einem Anbeginn, dass es als solches gar nicht gibt, kein Anfang, kein Ende. 

Erleuchtung ist unser natürlicher Zustand. Erleuchtung ist sowohl Zustand wie Prozess. Wir ziehen ihn aber immer wieder in Zwei-fel, das heißt, wir brauchen diesen Dachziegel, der uns trifft, damit wir in einer Weise sehen, die unserer Natur entspricht, die unserem Ursprung entspricht. 

Sprachlich lässt sich das alles immer nur dualistisch ausdrücken, im Grunde genommen kann es nur um Stille, um Mu, um diesen Augenblick gehen. 

Darüber und über uns selbst nachzudenken ist eine wunderbare Fähigkeit unserer Evolution. Wir schaffen uns damit den Spiegel, in dem wir uns betrachten können. Wir belassen es aber nicht bei dem Spiegel. Wir beginnen, den Spiegel zu bemalen, in dem wir unsere eigene Welt darin kreieren. Das ist die Welt unsere Vorstellungen. Irgendwann ist der Spiegel dann so bemalt, dass er nur noch wenig von dem wiedergibt, was die Welt ist. Er ist sozusagen zu einem Zerrspiegel geworden oder er ist einfach dunkel und vollgekleckert. Jedenfalls gibt er nur noch wenig von dem wieder, was ist. Insoweit stimmt die Legende von dem Mönch Shenxiu, der in seinem Vers über sein Erfahren und seine Übung vom stetigen Polieren des Spiegels schrieb, damit sich kein Staub festsetze. Wer aufwacht, erfährt aber, dass es im Grunde diesen Spiegel gar nicht gib und insoweit hat der 6. Patriarch Huineng mit seinem Vers recht. Wo könnte sich dann irgendein Staubkorn niederlassen? Auch der stumpfe Spiegel, also auch meine eingeschränkte Sicht ist es! Nur, wenn mir das aufgeht, ist die Einschränkung und der ganze Spiegel weg. 

Und er erstrahlt in seinem eigentlichen Glanz. Das ist Erwachen. Ich kann also nichts machen, weil es nichts zu machen gibt, weil alles ja schon immer da ist und ich schon erleuchtet bin. 

Und wenn ich das aber nicht weiß? Ich weiß es nicht, ich spüre es nicht, also gibt es doch ein vorher und ein nachher. Sprachlich-konzeptionell sieht es in der Tat so aus, als gäbe es da eine Erfahrung, die ich machen könnte. Aber so ist es nicht. 

Ich bin schon immer in der unmittelbaren Erfahrung, nur kann ich sie nicht ausdrücken, jedenfalls nicht mit Mitteln der Sprache. Solange Sprache dazu genutzt wird, Vorstellungen zu kreieren. Solange ich Sprache nur als Laut verstehe, als dieses Blabla, was gerade ist, komme ich dem Verständnis, um das es geht, schon näher. Ich kann nichts machen, ich kann mich nur dem überlassen, was ist und verantwortlich das tun, was zu tun ist. 

Bodhidharmas „weit und leer“ ist sowohl Zustand wie Prozess. Wer diesen Zustand erfährt, spricht nicht mehr von Erwachen und Erleuchtung insoweit, dass er sie auf sich selbst bezieht, um sich von anderen zu unterscheiden. 

Verstehen kann ich das nur, wenn mein Verständnis über mein rationales Verständnis hinaus wächst. Eben dazu dient unsere Koan-Schulung. Das, was wir als die große Leerheit erfahren, das Nichts, also die Freiheit von jedem Phänomen, ist absolut identisch mit der phänomenalen Welt, die wir gerade jetzt mit unseren Sinnen wahrnehmen und über unser Denken reflektieren. Diese Welt und dieses Universum ist in ständiger Veränderung begriffen und alles hängt mit allem zusammen. Es findet sogar eine Entwicklung statt, scheinbar vom einfachen zum komplexen. Inwieweit diese Entwicklung absolut oder alternierend ist, wissen wir nicht. Diese Entwicklung ist aber offen, es gibt weder Anfang noch Ende.  

Ich persönlich werde geboren und ich werde sterben und gleichzeitig gilt aber auch, dass ich weder geboren bin noch sterben werde. Mein Handeln hat immer Auswirkungen auf das Ganze. Jedes Erfahren und jedes Erkennen kann immer nur im Kontext von dem stattfinden, was gerade ist. Aufwachen kann ich immer nur zu dem, was gerade ist. 

Dieses Ist ist Sein und Werden zugleich. Insoweit spreche ich davon, dass mein Aufwachen sich auch stetig aktualisieren kann und muss. Sonst ist es nicht umfassend. Erleuchtung ist nicht unser endgültiger Zustand sondern ein Zustand in Veränderung. Bewegung und Stille sind eins so wie Form und Leere eins sind. 

Letzten Endes wird es darum gehen, diese Identität von Wesenswelt und phänomenaler Welt in jedem Augenblick zu erfahren und dementsprechend zu handeln. Ich bin von Anfang an vollkommen. Das gilt aber für jeden, egal wer er ist und wo er herkommt. 

Oh!

Oh!Nur dies, nur dies!

Stille!

Das ist die Erfahrung des unmittelbaren Augenblicks. 

Bevor sich der gewaltige Filter unseres Bewertungssystem davor schiebt. 

Bevor wir identifizieren, klassifizieren, bewerten und einordnen. 

Bevor die angelernten Muster und erworbenen Konditionierungen zu einer automatischen Reaktion führen: „Kenn ich doch schon. Langweilig!“ oder „Schrecklich! Gefällt mir nicht! Will ich nicht!“ oder „Gefällt mir, das will ich haben!“. 

Gleich ob es sich um eine wunderschöne Blume, einen Menschen, irgendein anderes „Objekt“ unserer natürlichen Umgebung oder eines aus dem unermesslichen Angebot unserer Konsumkultur handelt. Oder auch um ein Gefühl, das Erspüren und Erleben einer Situation oder einen konkreten Gedanken. 

Oh!

Nur dies, nur dies!

Stille! Unmöglich, mehr zu sagen. 

Das ist auch die Erfahrung des unmittelbaren Einlassens auf das, was ist. Einfach tun, ohne darüber nachzudenken. Sich ganz einlassen auf den Augenblick, ihn annehmen. 

Nur atmen, nur gehen, nur sitzen, nur stehen,

nur schauen, nur lauschen, nur spüren, 

nur diese Frucht schälen, nur sie essen und ihren wunderbaren Geschmack erleben. 

Ganz aufgehen und verschmelzen in das gegenwärtige Tun. Nur fließen, nicht hadern und Widerstand leisten. 

Kindern ist diese Erfahrung in der Regel noch nicht abhanden gekommen, auch wenn sie häufig unter Zeit- und Leistungsdruck stehen und ihre viel zu frühe Konfrontation mit der digitalen Welt ihnen einen Rhythmus auferlegt, dessen viel zu schneller Takt sie von einer wesentlichen Erfahrung ihrer Wirklichkeit entfremdet. 

Dennoch, wenn wir sie bei ihrem Staunen und Tun beobachten, können sie uns wertvolle Lehrmeister sein, um wiederzuentdecken, was uns verloren ging. Einfach im Augenblick mit ihnen gemeinsam präsent sein. 

In der Meditation üben wir nichts anderes, schauen und lauschen, um zu erfahren, wer wir wirklich sind, bevor wir uns identifizieren mit einem bloßen Teilaspekt unseres umfassenden Seins. 

Auf dem Zenweg wird unser Atem zur zentralen Übung. Wir schauen ihm zu und verbinden darüber unseren Körper und unseren Geist mit der uns tragenden Welt. Gleich was wir tun, wir sind uns dessen achtsam bewusst. Wir üben nichts anderes als Gegenwart. 

Kinder sind häufig noch mitten drin und müssen gar nicht üben, was ihnen dennoch im Laufe ihres Reiferwerdens verloren geht. Muss das zwangsläufig so sein oder gibt es Wege, sich diese Weise der Präsenz und der unmittelbaren Erfahrung zu erhalten? 

Und sind Kinder bereits erleuchtet, wofür wir dann Jahre auf unserem Kissen verbringen müssen? Kinder können sich eben noch Zeit lassen, wir Erwachsene mit unserer Unzahl an zu erledigenden Aufgaben und Verpflichtungen eben nicht. 

Um die Individuation kommen wir nicht herum, mit einem Erkennen und Identifizieren also dessen, was in uns einmalig angelegt ist und zur Entfaltung drängt. Es gehört aber auch zu unserem Menschsein, sozusagen mit zu unserem kosmischen Auftrag, zu erfahren, was dieses universale Leben als solches ist. Kognitives Erkennen ist uns gegeben und es ist sinnvoll, solange wir es nicht verabsolutieren und alle anderen Modalitäten der Wahrnehmung verdrängen. Jeder von uns ist eine einmalige und vollkommene Verkörperung dieses Lebens und darauf angelegt, zu entwickeln, was in ihm im Zusammenspiel mit seiner Mitwelt möglich ist. 

Nicht nur Kinder, jeder von uns ist bereits erleuchtet. Es geht auf unserem Zen-Weg nicht darum, Erleuchtung zu erreichen, auch wenn das so häufig missverstanden wird. Wir sind es bereits, jetzt gerade, wo Du diese Zeilen liest und diesen Augenblick jetzt erfährst.  

Wir gehen diesen Weg nicht, um schließlich nach vielen Anstrengungen und Entbehrungen etwas anderes zu werden, als wir bereit sind. Wir gehen ihn, weil wir ihn gehen, jeder Schritt ist bereits die eine vollständige Erleuchtung. Das, was wir als Mangel empfinden, als ein Fehlen von Erleuchtung, ist lediglich unserer Unachtsamkeit geschuldet, nicht zu sehen, was ist, nicht zu spüren, was ist. 

Wir hängen fest an unseren Konditionierungen und Konstruktionen und müssen üben, was Kindern noch viel leichter fällt. Wenn wir sie denn nicht von vorneherein zuschütten mit allem, was ihre Sinne abstumpft und ihre Wahrnehmung einschränkt und wenn wir sie nicht achten als das, was sie sind, vollständig und vollkommen und doch angewiesen auf unseren Schutz, unseren Respekt und unsere Sicherheit. 

Die unmittelbaren Erfahrungen, jedenfalls diejenigen, die von Liebe und Mitgefühl geprägt sind, geben Kindern das notwendige Vertrauen in ihren individuellen Weg. Dieses Vertrauen zu stärken und unseren Kindern die Zeit und den Raum für vertiefte Erfahrungen zu geben, liegt in der Verantwortung von uns Erwachsenen.
Dafür bekommen wir unendlich viel zurück. 

Kinder geben uns Hinweise, wo wir suchen müssen, 

um herauszufinden, wer wir wirklich sind. 

Dazu müssen wir nur innehalten und  

ihnen eine Weile zuschauen. 

Kein Augenblick ist wertlos. 

Radikale Akzeptanz 

Verändern, was zu verändern ist und annehmen, was nicht zu verändern ist. Diese simple Handlungsanweisung ist auch Richtschnur auf unserem spirituellen Weg. In ihr verbirgt sich weit mehr, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ihren Schatz, ihr gesamtes Potential offenbart sie erst, wenn ich wirklich übe und damit umsetze, was gemeint ist. Es gibt vieles in meiner Wirklichkeit, das ich verändern möchte und verändern kann, bei mir selber angefangen, mein Selbstbildnis, Gedanken, Bilder, Emotionen, mein Verhalten, meine Beziehungen, meine Arbeit. Jede Veränderung braucht Energie und Zeit. 
Es gibt aber noch mehr, was ich nicht verändern kann und annehmen muss. Das sind viele gegebene Umstände, die unveränderlich sind oder die ich bewusst nicht ändern will, weil mir eine Veränderung mehr Angst macht, als Leidensdruck entsteht, wenn ich die Situation aushalte. 

Leidensdruck entsteht aber vor allem, wenn ich eine unveränderliche Situation nicht akzeptieren, nicht annehmen will. Das kann eine schreckliche existentielle Bedrohung sein, der Tod eines Angehörigen oder der eigene Tod, eine schwere Erkrankung, Schmerzen oder auch die eigene Partnerschaft oder die Arbeit. Im Grunde genommen alles, mit dem ich konfrontiert bin und ablehne. Wenn ich die Wirklichkeit so wie sie gerade ist, ablehne, leide ich an meinem ganzen Leben. Erst in der Annahme löst sich mein Leiden auf. 

Das heißt eben nicht, alles gutzuheißen und klaglos hinzunehmen sondern es heißt, die richtige Reihenfolge zu beachten. Auch das, was zu verändern möglich ist, musst ich erst einmal akzeptieren. Also genau anschauen und beobachten, um überhaupt zu erfahren, worum es sich handelt. Das gilt für Gedanken und Gefühle genauso wie alle Erfahrungen meiner äußeren Welt. 

Alles andere wäre auch eine Aufspaltung meiner Lebenskraft, meiner Energie. Ich würde einen Teil in meinem Widerstand investieren gegen das, was ist. Einen anderen Teil müsste ich dann für das Aushalten reservieren, gerade dann, wenn ich einer Situation bin, die ich nicht sofort ändern kann. Was bleibt mir dann noch übrig an Kraft, um zu verändern? Was nützt es mir, wenn ich zum Beispiel mich entschieden habe, einer bestimmten Arbeit nachzugehen, diese dann aber permanent ablehne? Was nützt es mir, wenn ich ständig mit meinen Gedanken und Gefühlen um das kreise, was bereits geschehen ist und was ich nicht mehr verändern kann? 

Unermessliches Leid entsteht eben zusätzlich durch mein nicht-annehmen-wollen, egal ob es Schmerzen sind, kaum zu ertragende Gedanken oder Gefühle, schreckliche äußere Ereignisse usw.. Natürlich ist es viel angenehmer, sich Freude und Glück gegenüber zu öffnen aber auch diese werde ich nicht in ihrer Fülle erfahren können, wenn ich mich dem Leben in all seinen Facetten verschließe. 

Radikale Akzeptanz ist letztlich ein liebevolles Hinnehmen, ein Überlassen an das, was ist, ein Aufgehen. Ich verliere mich dabei nicht, im Gegenteil, ich gewinne mein Leben, das Leben als solches, das sich mir jeden Augenblick in einer unendlichen Fülle offenbart. 

Mein Atem ist das Instrument, auf dem ich mich spielen lasse. Ich atme ein, ich atme aus, jeden Augenblick neu. Und jedes Einatmen ist nichts anderes als annehmen und jedes Ausatmen nichts anderes als loslassen. 

Wenn ich mich verweigere, stockt mein Atem, wenn ich mich seinem Fluss anvertraue, gibt es auch kein Leid mehr. Dann bin ich voll da, um das zu tun, was zu tun ist und das zu verändern, was möglich ist, zu verändern. Für unser aller Leben.  

Sterben

Zu unserem Leben gehört auch unser Sterben. Es geschieht einfach und niemand weiß, wann.

Wer sein wahres Wesen erfahren hat, weiß, dass es den Tod gar nicht gibt, weil das Leben in jedem Augenblick in einer Vielzahl neuer Formen geboren wird. Wer an sein Ich glaubt und sich von Allem getrennt erfährt, kennt auch die Angst vor dem eigenen Tod und versucht, sie auf vielfältige Weise zu verdrängen.

Jedes Leben will wachsen, blühen und sich erfüllen. Das gelingt häufig nicht und viele Formen vergehen, bevor sie sich entfaltet und vollendet haben. Unsere Aufgabe ist es, nicht nur unser individuelles Leben zu entwickeln, zu schützen und zu fördern sondern das ganze Leben. Denn wir sind es selbst, jedes einzelne von ihnen.

Wir haben dabei alles zu tun, was wir tun können. Oft scheinen wir machtlos, bei Unfällen oder bestimmten Krankheiten, bei menschlichen Auseinandersetzungen oder gar kriegerischen Konflikten. Dann müssen wir hinnehmen und annehmen, bleiben aber in der Verantwortung, nach künftigen Lösungen zu suchen.

Niemand hat es verdient, beim Warten am Flughafen oder während einer Fahrt mit der U-Bahn in die Luft gesprengt zu werden. Niemand hat das verdient, gleich an welchem Ort und gleich in welcher Situation. Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, andere Menschen zu töten.

Niemand hat es verdient, aus seiner Heimat vertrieben zu werden oder in einem Krieg zu sterben, hinter dem immerzu und ausschließlich ökonomische oder ideologische Motive einzelner stehen, nichts anderes als Gier, Hass und Verblendung.

Niemand hat es verdient, sich in die Luft zu sprengen und dabei sich selbst und viele andere zu töten, weil er sich in seinem Hass und in seiner Verblendung dazu berufen fühlt, im Grunde genommen aber von den Machtinteressen anderer instrumentalisiert und konditioniert wurde. Es gibt keine Rechtfertigung für solches Tun. Aber diese Taten geschehen nicht einfach so, sind nicht die bösen Taten kranker Individuen.

Niemand hat das Recht, einen anderen zu töten. Und doch geschieht es vielfach in jedem Augenblick. Wir müssen das annehmen, was geschieht, wir müssen es aber nicht hinnehmen als den unveränderlichen Lauf der Dinge, des Karmas oder Schicksals. Wir müssen auch nicht verzweifeln, auch wenn wir immer wieder von Trauer über das, was geschieht, überwältigt werden.

Wir haben zu tun, was zu tun ist und dazu gehört auch, gründlich und aufrichtig die Ursachen solcher Taten zu studieren und vor allem an der Auflösung solcher Ursachen zu arbeiten und nicht nur ihre Symptome zu bekämpfen.

In unserer Wirklichkeit ist alles mit allem verbunden und jede Wirkung hat viele Ursachen. Solange wir uns so verhalten, dass ein jeder versucht, sich die Erde mit allem, was darauf ist, untertan zu machen, solange wir in unserer Gier niemals genug haben können, in unserem Hass alles vernichten wollen, was uns stört und in unserer Verblendung nicht die Liebe erfahren wollen, die unser ganzes Leben gründet, solange werden wir immer neu unermesslichem Leid unterworfen werden.

Es gibt Möglichkeiten, es anders zu machen, anders zu leben, Lösungen zu finden, die das Leben als solches, also das Leben aller berücksichtigen. Viele arbeiten daran, viele spüren es in ihrem Herzen. Dem Weg des Herzens zu folgen, das ist der Weg.

Üben!

Der Schlüssel zur Erfahrung auf dem spirituellen Weg ist das persönliche Üben. Gelegentlich gibt es auch tiefe spirituelle Erfahrungen, die völlig unvermittelt auftreten, dennoch in besonderen Situationen. In Momenten der Stille, der Entspannung, im Urlaub, am Meer, im Wald, bei Spaziergängen, in romanischen Kirchen genauso wie in Zeiten der Anspannung, der Hektik oder gar der Verzweiflung, wenn plötzlich ein Moment hereinbricht, der völlig anders ist als gewohnt, der alles in einem neuen, überwältigendem Licht erscheinen lässt und der die eigene Perspektive radikal verändert. 

Darüber hinaus ist das eigene Üben aber unerlässlich und eine unvermittelte Erfahrung kann auch der Beginn sein, einen spirituellen Weg konsequent und systematisch zu gehen, um mich zu vertiefen und zu weiten.

Was bedeutet es dann konkret, zu üben? Seit meiner Geburt übe ich irgendetwas und freue mich darüber, wenn ich etwas erreicht habe. Immer wieder versuche ich mich als Säugling von der Rückenlage auf den Bauch zu drehen und wenn ich das zum ersten Mal erreicht habe, freue ich mich über diesen Erfolg.       

Sich aufrichten, stehen, gehen und laufen sind die ersten Meilensteine meiner Entwicklung, später dann Fahrradfahren und dann vielleicht ein Instrument, dem ich die richtigen Töne nur dann entlocken kann, wenn ich darauf übe. Üben braucht eine achtsame und stetige Wiederholung eines Vorgangs. Irgendwann geschieht es dann wie von selbst ohne ein bewusstes Wollen und Versuchen. 

In meinem Gehirn sind dann eine Vielzahl neuer neuronale Verknüpfungen entstanden, ein neues Muster, dass künftig trägt, anregt und motiviert. Ich habe etwas Neues gelernt und kann es künftig immer wieder einsetzen und dadurch verstärken. Leider gilt dieser Mechanismus auch für meine schlechten Gewohnheiten und alle meine Konditionierungen. Sie aufzugeben und zu verlernen, also etwas Neues zu lernen und zu werden, ist immer anstrengend. Aber auch unumgänglich, wenn ich mich entwickeln und verändern möchte.

Auf einem spirituellen Weg ist mein Üben meiner Sehnsucht geschuldet nach meinem eigentlichen Selbst, meinem Zuhause, meinem Ursprung, der Quelle unseres Seins. Wer bin ich wirklich und was und wie ist die Wirklichkeit, frage ich, weil ich es fragen kann und fragen muss. Ich kann gar nicht anders als nach Antworten zu suchen, bin ich, oder sind wir alle doch evolutionär derjenige und diejenigen, in dem das Leben als solches versucht, sich zu erkennen. Darüber aber nur philosophisch, also gedanklich reflektierend zu spekulieren, kann motivieren, bringt mich aber nicht entscheidend weiter. Es bleibt Konzept und damit abgehoben und abstrakt. 

Auf unserem Zenweg geht es aber um die direkte unmittelbare Erfahrung, um den Augenblick gerade jetzt, bevor unser konzeptionelles Denken einsetzt und ihn versucht zu abstrahieren. Die Blume, die blüht, nur blühen! Der Augenblick gerade jetzt, dieser eine Atemzug, dieses Oh! Einatmen, ausatmen, immer wieder neu. Dieses „Mu!“ im Einatmen, dieses „Mu!“ im Ausatmen. In diesem Augenblick ist ES bereits vollendet und vollkommen. Mehr ist es wirklich nicht. UND ES IST UND IST NICHT. 

Aber das wollen wir nicht glauben, darum fühlen wir uns schnell gelangweilt und suchen immer wieder neue spektakuläre Erfahrungen. Die werden uns in der spirituellen Szene reichlich angeboten. Aber diese Angebote sind nichts anderes als bunte Verpackungen und verkauft wird immer nur das gleiche. Wir bezahlen einen Preis und oft sehr hohe Preise für etwas, das wir auch ganz umsonst haben könnten, denn alles was wir dazu brauchen, haben wir bereits. Wir sind ES. 

Es geht bei der Übung wirklich nur darum, sich hinzusetzen in eine stabile Position und dann „Körper und Geist fallen zu lassen“, wie Dogen sagt. Körper und Geist fallen lassen heißt, in die Präsenz zu kommen des Augenblicks. Der Atem ist dazu meine wichtigste Hilfe, ich atme ein und ich atme aus und ich schaue dem Atemzug zu bis nur atmen ist, nur noch schauen. 

 Zunächst bedarf es dazu immer wieder meiner Konzentration, weil ich sehr schnell merke, wie ich abgelenkt werde durch eine Vielzahl von Sinneseindrücken und Gedanken, Bilder, Gefühlen und Emotionen. Es gilt immer wieder zurückzukehren zu diesem Atemzug gerade jetzt, zu dem „Mu!“ gerade jetzt, für diejenigen, die mit „Mu!“ üben. Zu Beginn und immer wieder zwischendurch ist es hilfreich, sich körperlich durchzuspüren, wie bin ich hier, wie sitze ich da? Erst dann, wenn sich diese aufgewühlte See der Bilder und Vorstellungen in mir beruhigt hat, komme ich in meiner Übung weiter und kann mehr erfahren. Und es geht wirklich nur um diesen einen Atemzug gerade jetzt, um dieses „Mu!“ gerade jetzt. 

Üben und Fortschritte machen bedeutet, das ich mir regelmäßig die Zeit nehme dafür. Ich muss es eben immer wieder wiederholen. Üben auf dem spirituellen Weg, auf unserem Zenweg bedeutet, das ich mir jeden Tag 20-30 Minuten zum Sitzen reserviere. Ich sollte mir aber keine Schuldgefühle machen, wenn mir das tägliche Üben nicht gelingt. Mit Schuldgefühlen oder unter Zwang üben, bringt es auch nicht. Lieber lernen, geduldig mit sich selbst zu sein und gegenüber den eigenen Widerständen und lernen, sich selbst und dem eigenen Geist zuzuschauen und sich einzulassen, auf das, was gerade geschieht. Irgendwann findet man dann den regelmäßigen Rhythmus. 

Wenn ich dann darüber hinaus intensivere Sitzzeiten besuche, ein Zazenkai (ein Übungstag intensiven Sitzens) oder regelmäßig ein Sesshin (mehrere Übungstage), dann erfahre ich auch, dass ich diese Konzentration halten kann, dass sie sich verändert in eine weite, nicht fixierende Achtsamkeit, dass sich mein inneres Erleben verändert, dass sich eine Stille in mir ausbreitet, die ich dann auch mit hineinnehmen kann in den Alltag und aus der heraus ein Handeln geschieht, was ich als „zu tun, was zu tun ist“ bezeichne. 

Solange ich nur an der Oberfläche bleibe, also im Wasser plansche oder von Teich zu Teich springe, werde ich nicht erfahren, welche Stille in der Tiefe ist. Es ist die Stille, bevor sich die bunte und lärmende Welt der Formen erhebt, die Stille, die der Ursprung von allem ist und in allem erfahrbar in jedem Augenblick. 

Dann bin ich wirklich ICH, also bin ich nicht. 

"Leere Wolke" Zen Linie Willigis Jäger