Warum leiden wir?

Warum leiden wir? Und woran leiden wir? Wenn etwas nicht so ist, wie es sein sollte, dann leiden wir. Leid ist also in erheblichen Maß von unseren Vorstellungen abhängig, wie etwas sein sollte. Vorstellungen wiederum sind Teil unserer Gewohnheiten, mit denen wir unser Alltagsleben organisieren und Ergebnis einer langen Entwicklung, individuell wie kollektiv. Gewohnheiten sind automatisierte Abläufe, Lebensprozesse zu bewältigen im Wechselspiel von Anpassung an die Mitwelt und der Ausgestaltung von Wachstums- und Gestaltungsimpulsen. Das gilt für uns als ganzen Menschen, also in der Einheit aus Körper, Geist und Seele, die zwar getrennt gedacht werden können, die aber zusammen gehören und wirken als unterschiedliche Ebenen eines Prozesses. Es ist ein Prozess, der sich nicht nur auf diesen konkreten Menschen beschränkt sondern auf das Leben überhaupt. So kommen wir zum Kern aller unserer Probleme. In der Regel unterliegen wir der Illusion, getrennt zu sein von allem anderen, ein Subjekt in einer Welt voller Objekte. Diese beschränkte Sichtweise macht uns Angst und ist die Hauptursache unseres Leidens. Um diesem Leiden zu entkommen, vervielfachen wir es in unserer Unwissenheit, in dem wir mörderische Feldzüge gegen das Leben beginnen. 

Erst durch die Einsicht, das wir diesen ganzen Prozess selbst hervorbringen, dem wir entspringen, können wir unser Leiden beenden. Die Ursache unserer Illusion liegt in unserem Ich-Bewusstsein, von dem wir irrigerweise annehmen, es wäre wirklich. Dabei ist es nichts anderes als ein bestimmter Entwicklungsschritt des Lebens, reflexiv auf sich selbst Bezug zu nehmen, um darüber der Evolution weitere Entwicklungsspielräume zu kreieren. Anders ausgedrückt, Sein wird zu Bewusstsein, das Leben wird sich seiner selbst bewusst, in dem es Lebensformen hervorbringt, die reflexiv auf sich selbst Bezug nehmen können.  

Wir nehmen uns als scheinbare Individuen die Freiheit, diesen Prozess misszuverstehen und feiern unser Ego als goldenes Kalb. Es ist natürlich nichts anderes als das Leben selbst in seiner Ganzheit, das da missversteht und tanzt. Insoweit können wir ganz gelassen bleiben. Aber wir können eben auch anders. Wir können eben auch recht verstehen, einsehen und erfahren, worum es wirklich geht. Und darüber unser Leiden beenden. 

Wir sind und waren niemals getrennt von dem Leben als solches, von allen Lebensprozessen, gleich ob es der Mensch neben mir oder weit weg ist, die Fliege an der Wand, der Mikrokosmos mit seinen Molekülen, Atomen und Quarks oder unser Universum mit entstehenden und vergehenden Galaxien. Wir sind immer dieses eine Leben, das sich zeitlos in unendlich vielen Formen manifestiert. Das endlich zu erfahren und zu verwirklichen ist das Ziel unseres Weges. 

Das, was ich gerade erlebe, ist die ganze Welt und die einzig mögliche. Das mag mein sich verselbstständigtes Ich in der Regel nicht annehmen und strebt ständig nach etwas anderem. Annehmen bedeutet nicht, dass ich nicht aktiv handeln und verändern kann, im Gegenteil. Ich bin doch im Grunde selbst diese schöpferische Kraft, die dieses Leben erst hervorbringt. Das hört sich nur ketzerisch an, wenn man das Ich eben als isoliert von allem anderen versteht und erfährt, indem man sich mit einem Teil identifiziert anstatt mit dem Ganzen. Insoweit ist mein reflexives Ich sowohl Ursache wie Lösung meines Leidens. Ich muss erkennen und erfahren, worum es geht. 

In diesem ganzen Leben anzukommen, dass ich ja niemals verlassen konnte, bedeutet auch nicht, keine Schmerzen mehr zu empfinden und gleichgültig über allem zu stehen. Natürlich empfinde ich weiterhin körperlichen wie seelischen Schmerz, wenn ich krank bin oder wenn ich sehe, welche Qualen wir anderen Menschen oder Lebewesen zufügen. 

Das unser Leiden auf falschen Vorstellungen beruht, soll auch keineswegs das Leid all derer relativeren, die unter Krieg und Ausbeutung um ihr Überleben kämpfen. Krieg und Ausbeutung sind die Folgen unserer Gier und Beschränktheit. Trauer und Wut, Glück und Freude empfinde ich auch als einsichtiger Mensch. Aber ich bin davon weder beherrscht noch darauf fixiert. Ich tue einfach, was zu tun ist. 

Wenn ich erfahre, wer ich wirklich bin, wenn ich erfahre, dass wir nicht voneinander getrennt sind, das alles mit allem verbunden ist und dass unser ganzes Leben auf Zusammengehörigkeit, Kooperation und Austausch beruht, auf einer Kraft, die ich auch Liebe nennen kann, dann kann ich meiner Verantwortung gerecht werden, auf eine Weise zu handeln, die Leiden in jeder Form auflöst statt es zu verursachen. Dann bin ich gegründet in einem grundlosen Grund.