Alle Beiträge von Manfred Rosen

Oh!

Oh!Nur dies, nur dies!

Stille!

Das ist die Erfahrung des unmittelbaren Augenblicks. 

Bevor sich der gewaltige Filter unseres Bewertungssystem davor schiebt. 

Bevor wir identifizieren, klassifizieren, bewerten und einordnen. 

Bevor die angelernten Muster und erworbenen Konditionierungen zu einer automatischen Reaktion führen: „Kenn ich doch schon. Langweilig!“ oder „Schrecklich! Gefällt mir nicht! Will ich nicht!“ oder „Gefällt mir, das will ich haben!“. 

Gleich ob es sich um eine wunderschöne Blume, einen Menschen, irgendein anderes „Objekt“ unserer natürlichen Umgebung oder eines aus dem unermesslichen Angebot unserer Konsumkultur handelt. Oder auch um ein Gefühl, das Erspüren und Erleben einer Situation oder einen konkreten Gedanken. 

Oh!

Nur dies, nur dies!

Stille! Unmöglich, mehr zu sagen. 

Das ist auch die Erfahrung des unmittelbaren Einlassens auf das, was ist. Einfach tun, ohne darüber nachzudenken. Sich ganz einlassen auf den Augenblick, ihn annehmen. 

Nur atmen, nur gehen, nur sitzen, nur stehen,

nur schauen, nur lauschen, nur spüren, 

nur diese Frucht schälen, nur sie essen und ihren wunderbaren Geschmack erleben. 

Ganz aufgehen und verschmelzen in das gegenwärtige Tun. Nur fließen, nicht hadern und Widerstand leisten. 

Kindern ist diese Erfahrung in der Regel noch nicht abhanden gekommen, auch wenn sie häufig unter Zeit- und Leistungsdruck stehen und ihre viel zu frühe Konfrontation mit der digitalen Welt ihnen einen Rhythmus auferlegt, dessen viel zu schneller Takt sie von einer wesentlichen Erfahrung ihrer Wirklichkeit entfremdet. 

Dennoch, wenn wir sie bei ihrem Staunen und Tun beobachten, können sie uns wertvolle Lehrmeister sein, um wiederzuentdecken, was uns verloren ging. Einfach im Augenblick mit ihnen gemeinsam präsent sein. 

In der Meditation üben wir nichts anderes, schauen und lauschen, um zu erfahren, wer wir wirklich sind, bevor wir uns identifizieren mit einem bloßen Teilaspekt unseres umfassenden Seins. 

Auf dem Zenweg wird unser Atem zur zentralen Übung. Wir schauen ihm zu und verbinden darüber unseren Körper und unseren Geist mit der uns tragenden Welt. Gleich was wir tun, wir sind uns dessen achtsam bewusst. Wir üben nichts anderes als Gegenwart. 

Kinder sind häufig noch mitten drin und müssen gar nicht üben, was ihnen dennoch im Laufe ihres Reiferwerdens verloren geht. Muss das zwangsläufig so sein oder gibt es Wege, sich diese Weise der Präsenz und der unmittelbaren Erfahrung zu erhalten? 

Und sind Kinder bereits erleuchtet, wofür wir dann Jahre auf unserem Kissen verbringen müssen? Kinder können sich eben noch Zeit lassen, wir Erwachsene mit unserer Unzahl an zu erledigenden Aufgaben und Verpflichtungen eben nicht. 

Um die Individuation kommen wir nicht herum, mit einem Erkennen und Identifizieren also dessen, was in uns einmalig angelegt ist und zur Entfaltung drängt. Es gehört aber auch zu unserem Menschsein, sozusagen mit zu unserem kosmischen Auftrag, zu erfahren, was dieses universale Leben als solches ist. Kognitives Erkennen ist uns gegeben und es ist sinnvoll, solange wir es nicht verabsolutieren und alle anderen Modalitäten der Wahrnehmung verdrängen. Jeder von uns ist eine einmalige und vollkommene Verkörperung dieses Lebens und darauf angelegt, zu entwickeln, was in ihm im Zusammenspiel mit seiner Mitwelt möglich ist. 

Nicht nur Kinder, jeder von uns ist bereits erleuchtet. Es geht auf unserem Zen-Weg nicht darum, Erleuchtung zu erreichen, auch wenn das so häufig missverstanden wird. Wir sind es bereits, jetzt gerade, wo Du diese Zeilen liest und diesen Augenblick jetzt erfährst.  

Wir gehen diesen Weg nicht, um schließlich nach vielen Anstrengungen und Entbehrungen etwas anderes zu werden, als wir bereit sind. Wir gehen ihn, weil wir ihn gehen, jeder Schritt ist bereits die eine vollständige Erleuchtung. Das, was wir als Mangel empfinden, als ein Fehlen von Erleuchtung, ist lediglich unserer Unachtsamkeit geschuldet, nicht zu sehen, was ist, nicht zu spüren, was ist. 

Wir hängen fest an unseren Konditionierungen und Konstruktionen und müssen üben, was Kindern noch viel leichter fällt. Wenn wir sie denn nicht von vorneherein zuschütten mit allem, was ihre Sinne abstumpft und ihre Wahrnehmung einschränkt und wenn wir sie nicht achten als das, was sie sind, vollständig und vollkommen und doch angewiesen auf unseren Schutz, unseren Respekt und unsere Sicherheit. 

Die unmittelbaren Erfahrungen, jedenfalls diejenigen, die von Liebe und Mitgefühl geprägt sind, geben Kindern das notwendige Vertrauen in ihren individuellen Weg. Dieses Vertrauen zu stärken und unseren Kindern die Zeit und den Raum für vertiefte Erfahrungen zu geben, liegt in der Verantwortung von uns Erwachsenen.
Dafür bekommen wir unendlich viel zurück. 

Kinder geben uns Hinweise, wo wir suchen müssen, 

um herauszufinden, wer wir wirklich sind. 

Dazu müssen wir nur innehalten und  

ihnen eine Weile zuschauen. 

Kein Augenblick ist wertlos. 

Radikale Akzeptanz 

Verändern, was zu verändern ist und annehmen, was nicht zu verändern ist. Diese simple Handlungsanweisung ist auch Richtschnur auf unserem spirituellen Weg. In ihr verbirgt sich weit mehr, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ihren Schatz, ihr gesamtes Potential offenbart sie erst, wenn ich wirklich übe und damit umsetze, was gemeint ist. Es gibt vieles in meiner Wirklichkeit, das ich verändern möchte und verändern kann, bei mir selber angefangen, mein Selbstbildnis, Gedanken, Bilder, Emotionen, mein Verhalten, meine Beziehungen, meine Arbeit. Jede Veränderung braucht Energie und Zeit. 
Es gibt aber noch mehr, was ich nicht verändern kann und annehmen muss. Das sind viele gegebene Umstände, die unveränderlich sind oder die ich bewusst nicht ändern will, weil mir eine Veränderung mehr Angst macht, als Leidensdruck entsteht, wenn ich die Situation aushalte. 

Leidensdruck entsteht aber vor allem, wenn ich eine unveränderliche Situation nicht akzeptieren, nicht annehmen will. Das kann eine schreckliche existentielle Bedrohung sein, der Tod eines Angehörigen oder der eigene Tod, eine schwere Erkrankung, Schmerzen oder auch die eigene Partnerschaft oder die Arbeit. Im Grunde genommen alles, mit dem ich konfrontiert bin und ablehne. Wenn ich die Wirklichkeit so wie sie gerade ist, ablehne, leide ich an meinem ganzen Leben. Erst in der Annahme löst sich mein Leiden auf. 

Das heißt eben nicht, alles gutzuheißen und klaglos hinzunehmen sondern es heißt, die richtige Reihenfolge zu beachten. Auch das, was zu verändern möglich ist, musst ich erst einmal akzeptieren. Also genau anschauen und beobachten, um überhaupt zu erfahren, worum es sich handelt. Das gilt für Gedanken und Gefühle genauso wie alle Erfahrungen meiner äußeren Welt. 

Alles andere wäre auch eine Aufspaltung meiner Lebenskraft, meiner Energie. Ich würde einen Teil in meinem Widerstand investieren gegen das, was ist. Einen anderen Teil müsste ich dann für das Aushalten reservieren, gerade dann, wenn ich einer Situation bin, die ich nicht sofort ändern kann. Was bleibt mir dann noch übrig an Kraft, um zu verändern? Was nützt es mir, wenn ich zum Beispiel mich entschieden habe, einer bestimmten Arbeit nachzugehen, diese dann aber permanent ablehne? Was nützt es mir, wenn ich ständig mit meinen Gedanken und Gefühlen um das kreise, was bereits geschehen ist und was ich nicht mehr verändern kann? 

Unermessliches Leid entsteht eben zusätzlich durch mein nicht-annehmen-wollen, egal ob es Schmerzen sind, kaum zu ertragende Gedanken oder Gefühle, schreckliche äußere Ereignisse usw.. Natürlich ist es viel angenehmer, sich Freude und Glück gegenüber zu öffnen aber auch diese werde ich nicht in ihrer Fülle erfahren können, wenn ich mich dem Leben in all seinen Facetten verschließe. 

Radikale Akzeptanz ist letztlich ein liebevolles Hinnehmen, ein Überlassen an das, was ist, ein Aufgehen. Ich verliere mich dabei nicht, im Gegenteil, ich gewinne mein Leben, das Leben als solches, das sich mir jeden Augenblick in einer unendlichen Fülle offenbart. 

Mein Atem ist das Instrument, auf dem ich mich spielen lasse. Ich atme ein, ich atme aus, jeden Augenblick neu. Und jedes Einatmen ist nichts anderes als annehmen und jedes Ausatmen nichts anderes als loslassen. 

Wenn ich mich verweigere, stockt mein Atem, wenn ich mich seinem Fluss anvertraue, gibt es auch kein Leid mehr. Dann bin ich voll da, um das zu tun, was zu tun ist und das zu verändern, was möglich ist, zu verändern. Für unser aller Leben.  

Sterben

Zu unserem Leben gehört auch unser Sterben. Es geschieht einfach und niemand weiß, wann.

Wer sein wahres Wesen erfahren hat, weiß, dass es den Tod gar nicht gibt, weil das Leben in jedem Augenblick in einer Vielzahl neuer Formen geboren wird. Wer an sein Ich glaubt und sich von Allem getrennt erfährt, kennt auch die Angst vor dem eigenen Tod und versucht, sie auf vielfältige Weise zu verdrängen.

Jedes Leben will wachsen, blühen und sich erfüllen. Das gelingt häufig nicht und viele Formen vergehen, bevor sie sich entfaltet und vollendet haben. Unsere Aufgabe ist es, nicht nur unser individuelles Leben zu entwickeln, zu schützen und zu fördern sondern das ganze Leben. Denn wir sind es selbst, jedes einzelne von ihnen.

Wir haben dabei alles zu tun, was wir tun können. Oft scheinen wir machtlos, bei Unfällen oder bestimmten Krankheiten, bei menschlichen Auseinandersetzungen oder gar kriegerischen Konflikten. Dann müssen wir hinnehmen und annehmen, bleiben aber in der Verantwortung, nach künftigen Lösungen zu suchen.

Niemand hat es verdient, beim Warten am Flughafen oder während einer Fahrt mit der U-Bahn in die Luft gesprengt zu werden. Niemand hat das verdient, gleich an welchem Ort und gleich in welcher Situation. Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, andere Menschen zu töten.

Niemand hat es verdient, aus seiner Heimat vertrieben zu werden oder in einem Krieg zu sterben, hinter dem immerzu und ausschließlich ökonomische oder ideologische Motive einzelner stehen, nichts anderes als Gier, Hass und Verblendung.

Niemand hat es verdient, sich in die Luft zu sprengen und dabei sich selbst und viele andere zu töten, weil er sich in seinem Hass und in seiner Verblendung dazu berufen fühlt, im Grunde genommen aber von den Machtinteressen anderer instrumentalisiert und konditioniert wurde. Es gibt keine Rechtfertigung für solches Tun. Aber diese Taten geschehen nicht einfach so, sind nicht die bösen Taten kranker Individuen.

Niemand hat das Recht, einen anderen zu töten. Und doch geschieht es vielfach in jedem Augenblick. Wir müssen das annehmen, was geschieht, wir müssen es aber nicht hinnehmen als den unveränderlichen Lauf der Dinge, des Karmas oder Schicksals. Wir müssen auch nicht verzweifeln, auch wenn wir immer wieder von Trauer über das, was geschieht, überwältigt werden.

Wir haben zu tun, was zu tun ist und dazu gehört auch, gründlich und aufrichtig die Ursachen solcher Taten zu studieren und vor allem an der Auflösung solcher Ursachen zu arbeiten und nicht nur ihre Symptome zu bekämpfen.

In unserer Wirklichkeit ist alles mit allem verbunden und jede Wirkung hat viele Ursachen. Solange wir uns so verhalten, dass ein jeder versucht, sich die Erde mit allem, was darauf ist, untertan zu machen, solange wir in unserer Gier niemals genug haben können, in unserem Hass alles vernichten wollen, was uns stört und in unserer Verblendung nicht die Liebe erfahren wollen, die unser ganzes Leben gründet, solange werden wir immer neu unermesslichem Leid unterworfen werden.

Es gibt Möglichkeiten, es anders zu machen, anders zu leben, Lösungen zu finden, die das Leben als solches, also das Leben aller berücksichtigen. Viele arbeiten daran, viele spüren es in ihrem Herzen. Dem Weg des Herzens zu folgen, das ist der Weg.

Üben!

Der Schlüssel zur Erfahrung auf dem spirituellen Weg ist das persönliche Üben. Gelegentlich gibt es auch tiefe spirituelle Erfahrungen, die völlig unvermittelt auftreten, dennoch in besonderen Situationen. In Momenten der Stille, der Entspannung, im Urlaub, am Meer, im Wald, bei Spaziergängen, in romanischen Kirchen genauso wie in Zeiten der Anspannung, der Hektik oder gar der Verzweiflung, wenn plötzlich ein Moment hereinbricht, der völlig anders ist als gewohnt, der alles in einem neuen, überwältigendem Licht erscheinen lässt und der die eigene Perspektive radikal verändert. 

Darüber hinaus ist das eigene Üben aber unerlässlich und eine unvermittelte Erfahrung kann auch der Beginn sein, einen spirituellen Weg konsequent und systematisch zu gehen, um mich zu vertiefen und zu weiten.

Was bedeutet es dann konkret, zu üben? Seit meiner Geburt übe ich irgendetwas und freue mich darüber, wenn ich etwas erreicht habe. Immer wieder versuche ich mich als Säugling von der Rückenlage auf den Bauch zu drehen und wenn ich das zum ersten Mal erreicht habe, freue ich mich über diesen Erfolg.       

Sich aufrichten, stehen, gehen und laufen sind die ersten Meilensteine meiner Entwicklung, später dann Fahrradfahren und dann vielleicht ein Instrument, dem ich die richtigen Töne nur dann entlocken kann, wenn ich darauf übe. Üben braucht eine achtsame und stetige Wiederholung eines Vorgangs. Irgendwann geschieht es dann wie von selbst ohne ein bewusstes Wollen und Versuchen. 

In meinem Gehirn sind dann eine Vielzahl neuer neuronale Verknüpfungen entstanden, ein neues Muster, dass künftig trägt, anregt und motiviert. Ich habe etwas Neues gelernt und kann es künftig immer wieder einsetzen und dadurch verstärken. Leider gilt dieser Mechanismus auch für meine schlechten Gewohnheiten und alle meine Konditionierungen. Sie aufzugeben und zu verlernen, also etwas Neues zu lernen und zu werden, ist immer anstrengend. Aber auch unumgänglich, wenn ich mich entwickeln und verändern möchte.

Auf einem spirituellen Weg ist mein Üben meiner Sehnsucht geschuldet nach meinem eigentlichen Selbst, meinem Zuhause, meinem Ursprung, der Quelle unseres Seins. Wer bin ich wirklich und was und wie ist die Wirklichkeit, frage ich, weil ich es fragen kann und fragen muss. Ich kann gar nicht anders als nach Antworten zu suchen, bin ich, oder sind wir alle doch evolutionär derjenige und diejenigen, in dem das Leben als solches versucht, sich zu erkennen. Darüber aber nur philosophisch, also gedanklich reflektierend zu spekulieren, kann motivieren, bringt mich aber nicht entscheidend weiter. Es bleibt Konzept und damit abgehoben und abstrakt. 

Auf unserem Zenweg geht es aber um die direkte unmittelbare Erfahrung, um den Augenblick gerade jetzt, bevor unser konzeptionelles Denken einsetzt und ihn versucht zu abstrahieren. Die Blume, die blüht, nur blühen! Der Augenblick gerade jetzt, dieser eine Atemzug, dieses Oh! Einatmen, ausatmen, immer wieder neu. Dieses „Mu!“ im Einatmen, dieses „Mu!“ im Ausatmen. In diesem Augenblick ist ES bereits vollendet und vollkommen. Mehr ist es wirklich nicht. UND ES IST UND IST NICHT. 

Aber das wollen wir nicht glauben, darum fühlen wir uns schnell gelangweilt und suchen immer wieder neue spektakuläre Erfahrungen. Die werden uns in der spirituellen Szene reichlich angeboten. Aber diese Angebote sind nichts anderes als bunte Verpackungen und verkauft wird immer nur das gleiche. Wir bezahlen einen Preis und oft sehr hohe Preise für etwas, das wir auch ganz umsonst haben könnten, denn alles was wir dazu brauchen, haben wir bereits. Wir sind ES. 

Es geht bei der Übung wirklich nur darum, sich hinzusetzen in eine stabile Position und dann „Körper und Geist fallen zu lassen“, wie Dogen sagt. Körper und Geist fallen lassen heißt, in die Präsenz zu kommen des Augenblicks. Der Atem ist dazu meine wichtigste Hilfe, ich atme ein und ich atme aus und ich schaue dem Atemzug zu bis nur atmen ist, nur noch schauen. 

 Zunächst bedarf es dazu immer wieder meiner Konzentration, weil ich sehr schnell merke, wie ich abgelenkt werde durch eine Vielzahl von Sinneseindrücken und Gedanken, Bilder, Gefühlen und Emotionen. Es gilt immer wieder zurückzukehren zu diesem Atemzug gerade jetzt, zu dem „Mu!“ gerade jetzt, für diejenigen, die mit „Mu!“ üben. Zu Beginn und immer wieder zwischendurch ist es hilfreich, sich körperlich durchzuspüren, wie bin ich hier, wie sitze ich da? Erst dann, wenn sich diese aufgewühlte See der Bilder und Vorstellungen in mir beruhigt hat, komme ich in meiner Übung weiter und kann mehr erfahren. Und es geht wirklich nur um diesen einen Atemzug gerade jetzt, um dieses „Mu!“ gerade jetzt. 

Üben und Fortschritte machen bedeutet, das ich mir regelmäßig die Zeit nehme dafür. Ich muss es eben immer wieder wiederholen. Üben auf dem spirituellen Weg, auf unserem Zenweg bedeutet, das ich mir jeden Tag 20-30 Minuten zum Sitzen reserviere. Ich sollte mir aber keine Schuldgefühle machen, wenn mir das tägliche Üben nicht gelingt. Mit Schuldgefühlen oder unter Zwang üben, bringt es auch nicht. Lieber lernen, geduldig mit sich selbst zu sein und gegenüber den eigenen Widerständen und lernen, sich selbst und dem eigenen Geist zuzuschauen und sich einzulassen, auf das, was gerade geschieht. Irgendwann findet man dann den regelmäßigen Rhythmus. 

Wenn ich dann darüber hinaus intensivere Sitzzeiten besuche, ein Zazenkai (ein Übungstag intensiven Sitzens) oder regelmäßig ein Sesshin (mehrere Übungstage), dann erfahre ich auch, dass ich diese Konzentration halten kann, dass sie sich verändert in eine weite, nicht fixierende Achtsamkeit, dass sich mein inneres Erleben verändert, dass sich eine Stille in mir ausbreitet, die ich dann auch mit hineinnehmen kann in den Alltag und aus der heraus ein Handeln geschieht, was ich als „zu tun, was zu tun ist“ bezeichne. 

Solange ich nur an der Oberfläche bleibe, also im Wasser plansche oder von Teich zu Teich springe, werde ich nicht erfahren, welche Stille in der Tiefe ist. Es ist die Stille, bevor sich die bunte und lärmende Welt der Formen erhebt, die Stille, die der Ursprung von allem ist und in allem erfahrbar in jedem Augenblick. 

Dann bin ich wirklich ICH, also bin ich nicht. 

Zen und Achtsamkeit 

Was ist Zen? Immer wieder diese Frage, schon so viele Antworten. 
„Eine Übertragung außerhalb der Schriften, unmittelbar auf des Menschen Herz zielend“ (Bodhidharma 9.Jhdt) oder „Zen ist der Geschmack von wilden Erdbeeren“ (Vreni Merz, 2002). 

Doch gibt es keine endgültige Antwort und keine eindeutige, nur viele verschiedene. Ein Prozess, der sich ständig verändert, kann man immer wieder nur neu versuchen, zu beschreiben und jede Beschreibung wird unvollständig sein.

Zen ist nichts anderes als unser Leben, als unser wahres Leben. Im Zen geht es immer nur darum, die Wirklichkeit so zu erfahren, wie sie ist, ganz im diesseits, in unserem Alltag, aber jenseits all unserer verblendeten Vorstellungen, die wir auch als Ich bezeichnen. 

Die wahre Wirklichkeit zu erfahren, nennen wir im Zen auch Satori. Das ist nichts anderes als die Erfahrung Shakyamuni Buddhas. Diese Erfahrung und ihre Verwirklichung im Alltag ist das zentrale Anliegen des Zen. 

Zen ist nicht das gleiche wie Buddhismus sondern führt über jeden „ismus“ hinaus. Auch wenn Zen in seiner Geschichte lange mit dem Buddhismus verbunden war, ist diese Verbindung nicht zwingend. In der Erfahrung, um die es geht, gibt es keine Unterschiede mehr, weder konfessionell oder ideologisch noch kulturell oder ethnisch. 

Zen zeigt sich in den unterschiedlichsten Gewändern und wir alle auf dem Weg suchen nach angemessenen und zeitgenössischen Ausdrucksformen, die uns entsprechen und doch das Wesentliche ungehindert hervortreten lassen. Wir müssen nicht eine chinesische oder japanische oder koreanische Tradition kopieren, es reicht aber auch nicht, lediglich ein paar Meditationstechniken aus der langen und reichen Tradition zu nehmen, sie von ihrem buddhistischen oder möglicherweise religiösen Kontext zu entkleiden und ein Derivat zu präsentieren, dass angeblich den Kern der Erfahrung enthält und zu ihr hinführt. 

„Leere Weite, nichts von heilig“, sagte Bodhidharma und charakterisierte damit vollständig seinen Weg. Aber diesen Weg haben wir unser Leben lang zu gehen, das ist nichts für ein Wochenende oder ein Dreimonatsprogramm. 

Letztenendes geht es um eine vollständige Transformation und um unsere Entwicklung. Wir wissen nicht, wie das genau auszusehen hat aber es geht sicher nicht um persönliches Glück und körperliche Fitness, um Wellness und Gesundheit, um den Abbau von Stress oder gar um eine höhere Belastbarkeit in unserem Verwertungssystem und um effektivere Menschenführung, um innerhalb unserer dominierenden neoliberalen Ökonomie noch mehr aus ihnen heraus zu holen und damit dieses System zu stabilisieren, statt es gewaltfrei zu überwinden. 

Natürlich, alle Menschen sollen glücklich sein, aber eben alle, nicht nur ich! Darum sollten wir auch sehr genau aufpassen, dass unsere Erfahrung der Verbundenheit und der Einheit mit allen, die wir auf diesem Weg machen, nicht nur unsere eigene Gier und unseren eigenen Hass domestiziert sondern einmündet in eine umfassende Verantwortung für unser aller Leben, eben auch für soziale Gerechtigkeit und nachhaltiges und ökologisches Wirtschaften. 

Achtsamkeit ist eine wesentliche erlernbare Haltung auf unserem Weg. Achtsamkeit ist aber auch gerade eine Mode und in aller Munde. Wir sollten sie uns nicht zerreden und uns als stetige Haltung nehmen lassen von einem geschickten Marketing, dass unser konsumorientiertes Streben letztlich verstärkt, statt es loszulassen. Achtsamkeitstraining kann uns sehr gut tun, uns einen besseren Zugang zu unserer körperlichen und geistigen Existenz ermöglichen und uns auf unserem Weg ermutigen und stärken. Insoweit sei es allen empfohlen. Aber das ist dann noch nicht alles. 

Der Hinwendung nach Innen, dem körperlichen Erspüren und der Betrachtung eigener Gedanken und Gefühle muss durch eine Hin- und Zuwendung nach Außen und einer aktiven Teilnahme auf der Basis eines sich aus der Erfahrung entwickelnden ethischen Verhaltens vervollständigt werden. 

Irgendwann, wenn ich dann die Illusion meines Ichs erfahre und die Leerheit und Substanzlosigkeit aller Erscheinungen, gibt es kein Innen oder Außen mehr. Das ist dann immer noch nicht alles. Es geht immer weiter, und es geht immer um diesen Atemzug gerade jetzt. 

Wir sind Entwürfe

Wir sind Entwürfe, nichts als Entwürfe. Aber nicht von einem Fremden hineingeworfen in diese Existenz, die unser Leben ist, sondern wir sind es selber, die uns kreieren.
Ein jeder ist seines Glückes Schmied, heißt es in einer alten, häufig missbrauchten und missverstandenen Volksweisheit.
Ein jeder ist sein eigener Ursprung und verantwortlich für das, was er aus sich macht, nicht für das, was ihm widerfährt. Das hört sich so radikal und so grausam an, rechtfertigt es doch scheinbar all das Übel, dem wir uns tagtäglich gegenübersehen, alle die aus Macht, Gier und Gewalt resultierenden Verbrechen. Ich habe die Wahl, ein guter Mensch zu sein, es zumindest immer wieder zu versuchen. Und es sind nur Versuche, die wir alle miteinander gemeinsam tun.
All unser Leben in all seinen Formen, alles was wir vorfinden oder schaffen, alle Mittel, die wir entwickeln und anwenden, um das miteinander zu teilen, was wir sind, untrennbar verbunden und eins, sind nur Versuche.
Unaufhörlich kreiiert sich das, was wir den Ursprung oder Gott oder die Liebe (mein bevorzugter, doch so belasteter Name) oder das Nichts oder das Universum nennen, neu. Es gibt keinen Grund, es sei denn er ist grundlos.
Ein jeder von uns ist jeden Augenblick dabei nichts anderes ist als diese aktuelle Verwirklichung. Eine Wahrheit gibt es dabei nicht, nur vorübergehende Erfahrungen, die, wenn ich mich gerade daran gewöhnt habe, mir schon entgleiten und mich zurücklassen und Leid verursachen, wenn ich daran festzuhalten versuche statt mich dem Prozess, der ich bin, zu überlassen. Ob ich das sehe oder versuche zu ergründen oder ob ich blind durch mein Leben laufe, ist im Grunde gleich. Und da wir uns in diesem kreativen Prozess die Möglichkeit geben, darüber uns bewusst zu werden und mitzuwirken, haben wir zu tun, was zu tun ist, jeden Augenblick.
Und so lange, bis dieser Atemzug der letzte ist und auch dann geht es weiter, immer wieder neu. Wenn wir uns in Liebe diesem Augenblick gerade jetzt zuwenden, wissen wir, was zu tun ist und können alle Ohnmacht überwinden. Wir liegen nicht immer richtig, aber sind niemals vergebens. Wir sind alle vollkommen aber wir können das jeden Tag ein bisschen besser machen. Was sonst?

Willigis nachfolgen

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Die Nachfolger von Willigis Jäger in seiner Zen-Linie „Leere Wolke“

Zen-Meister Alexander Poraj, Doris Zölls, Paula Weber, Gisela Drescher, Manfred Rosen

Ruben Habito über Zen

Ich bin Hanna!

Ich bin Hanna!

Wenn ich mich auf den Zen-Weg mache, mache ich mich auf einen Weg des Herzenswandels. Wie sonst können wir den zahlreichen Herausforderungen begegnen, die sich uns im Alltag stellen? Diese Herausforderungen in sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht scheinen immer weiter zu wachsen und viele von uns fühlen sich überfordert, leer und verzweifelt angesichts dessen, was alltäglich auf sie zukommt. Wir brauchen eine völlig neue und umfassende Sichtweise. Und die beginnt bei uns selbst. Immer wieder habe ich dabei zu entdecken, wer ich bin. Darauf kann ich jederzeit zurückgreifen. Vieles weiß ich schon, vieles neue werde ich erfahren, wenn ich mich konsequent auf diesen Weg einlasse.

Zunächst einmal bin ich derjenige, der ich denke zu sein, mit all meinem Zweifel. Ich habe viele Gedanken, Vorstellungen, Bilder von mir, kann fühlen und mich spüren. Ich kann mich vor einen Spiegel stellen und sehen, welche Form mein Körper hat. Das bin alles Ich, oder? Auch im sozialen Miteinander bekomme ich viele Informationen über mich. Mir wird gesagt, wie ich bei anderen ankomme und was mein Verhalten und mein Aussehen bei ihnen provoziert. Das kann durchaus widersprüchlich sein. Ich richte mich danach aus, was andere von mir denken oder ich versuche, stark zu sein und es zu ignorieren. 

In meiner Kindheit habe ich mich an den nächsten Bezugspersonen orientiert, den Eltern, den Geschwistern, den Lehrern und allen anderen, die mir irgendwie nahe standen. Ich habe mich zusätzlich an allen Informationen orientiert, die ich in mir aufgenommen habe, aus Medien, Büchern, Filmen, Fernsehen. Heute entsprechen dem vor allem die sozialen Netzwerke und die zahllosen Informationsportale im Netz.  

Als ich dann älter wurde, habe ich vieles davon infrage stellen können, weil ich zunehmend in der Lage war, über mich selbst und über die Welt nachzudenken und zu reflektieren. So habe ich vielleicht übernommene Konzepte und Vorstellungen abgelegt und eigene konstruiert. Ich habe auch die Welt meiner Gefühle entdeckt und feststellen können, das Fühlen und Denken nicht immer deckungsgleich sind sondern häufig Verwirrung und Unklarheit mit sich bringen.

Auf einem spirituellen Weg wie unserem Zen-Weg geht die Suche nach Erkenntnis und Erfahrung weiter. Ich will mich dabei nicht nur in einer Beziehung zu mir selbst und meiner direkten Umgebung erfahren und definieren sondern mein Suchen und Sehnen richtet sich auf alles, was darüber hinaus führt. Ich habe vielleicht mit Schrecken erfahren, wie vergänglich mein Leben und das Leben überhaupt ist. Ich habe Verlust erlebt und getrauert und gespürt, wie kurz diese Spanne zwischen Geboren werden und Sterben doch eigentlich ist und wie wenig Zeit zur Verfügung steht dieses, mein Leben zu leben. Der Tod ist unumgänglich, warum dann überhaupt leben? Auch dazu lassen sich viele Antworten finden in Religionen und Ideologien. Antworten von anderen, die vielleicht trösten und ablenken. Auf meinem spirituellen Weg will ich eigene Antworten finden, Antworten, die tragen und überzeugen. Das allerwichtigste, was ich auf diesem Weg zu erfahren habe. Ja, es geht um die Überschreitung meiner bisherigen Grenzen und um die Überwindung meines bisherigen Weltbildes. Ich überschreite aber nicht in ein wie auch immer geartete Jenseits, ich löse mich nicht auf in ein wie auch immer verstandenes Nirwana, dessen Erreichen den Kreislauf meiner Wiedergeburten beendet. Im Gegenteil, ich komme dort an, wo ich schon immer war in der Welt und in dem Alltag, in dem ich jetzt bin. Wenn ich erwache, sehe ich meinen Alltag und die ganze Wirklichkeit so, wie sie ist. Den Satz aus dem Herz-Sutra „Gate, Gate Paragate, Parasamgate Bodhi Svaha“ (Drüben, drüben, drüben am anderen Ufer, angekommen am anderen Ufer) verstehen wir falsch, wenn wir das Ufer, das zu erreichen ist in einem jenseitigen Bereich suchen. Das Ufer ist schon immer hier und ich stehe schon immer darauf. Das ist Aufwachen. 

Auf spirituellen Wegen gibt es Begleiter, die einen unterstützen sollten, eigene Antworten zu finden. Viele tun das auch. Manche helfen und unterstützen aber nicht, sondern verfolgen nur ihre eigenen Interessen. Sie nutzen dann ihre Funktion, um andere zu manipulieren und zu missbrauchen. Sie können das umso leichter, umso mehr sie von denjenigen, die ihnen folgen, idealisiert werden. Weil wir davon ausgehen, dass sie die wichtigen Erfahrungen bereits gemacht haben, also einem vorausgegangen sind. Sie haben es bereits geschafft und können einem vielleicht in der eigenen Not helfen und das eigene Leid lindern.

Wenn wir auf unserem Weg die eigenen Grenzen überwinden wollen, die auf unseren Vorstellungen und bisherigen Erfahrungen, vor allem aber unseren Gewohnheiten beruhen, können wir das nicht dadurch tun, in dem wir die Vorstellungen von anderen übernehmen. Es geht um die eigene Erfahrung und es geht um das eigene Vertrauen. Selbstvertrauen entwickeln und an sich selber glauben im Sinne von „Es ist mein Weg und ich werde das schaffen!“ sind wichtig. Es geht nicht darum, an einem begrenzten Ich festzuhalten, aber es geht auch nicht darum, mein Ich durch das Ich eines anderen zu ersetzen, auch nicht durch das Ich eines Begleiters, den ich verehre. Ein guter Begleiter macht mir das immer wieder klar. Ich bin Hanna! oder Ich bin Manfred! oder Ich bin Peter! oder Ich bin Marika! Was all das heißt, muss ich herausfinden. Dazu ist der Zen-Weg da. Deswegen üben wir, deswegen sitzen wir, deswegen leben wir. 

Jeder von uns ist eine einmalige Form, ist dieser unverwechselbare und kostbare Ausdruck und ich darf mir mit Respekt, Achtung und mit Liebe begegnen, so wie ich allen anderen Formen der Wirklichkeit begegnen sollte. Was sich auf unserem Weg auflösen sollte, ist die Fixierung auf eine Form, ist das Festhalten und das Reduzieren aber nicht die Form als solche. Das „Ich“ auflösen heißt, Fixierungen aufzulösen, Grenzen zu überschreiten, alte Gewohnheiten zu erkennen und abzulegen und Verantwortung für sich zu übernehmen. Dieser Mensch, der ich bin in diesem Augenblick gerade jetzt, dieser Mensch, der ich bin in der Phase zwischen meinem Geboren werden und meinem Sterben ist nichts anderes als die Leere selbst. „Form ist wirklich Leere, Leere wirklich Form“, sagt das Herz-Sutra und „Leere ist Form, Form ist Leere“. Leere und Form sind Nicht-Zwei. 

Ich bin jetzt und jederzeit ein vollkommener Ausdruck des Absoluten oder wie man es auch immer nennen mag, In dieser meiner Form offenbart sich die Leere. Und auch, wenn ich diese Form als noch so unzulänglich oder gar abstoßend finde, wenn sie in meiner Bewertung also völlig durchfällt, ändert das nichts an ihrem Sosein. Aus der Perspektive der Form werde ich geboren und ich werde sterben, aus der Perspektive der Leere gibt es wieder Sterben noch Geboren werden. Leere und Form sind nicht zwei verschiedene Dinge. Dieses Ich, was ich spüre oder denke zu sein, das gibt es nicht als substantielle Entität. Das gibt es nicht im Sinne eines fixierbaren Egos. Das gibt es nur in meine Einbildung. Und Leiden entsteht vor allem, wo ich an dieser Einbildung festhalte. Es gibt immer nur das unmittelbare Erfahren und das unmittelbare Tun. 

Ein jeder von uns ist ein einmaliger Prozess in einem unendlichen Prozess. Doch beide Prozesse sind nicht voneinander verschieden, sie bilden einen Prozess. „Die Welle ist das Meer“, sagt Willigis Jäger und „das Meer ist diese Welle, die ich bin, diese einmalige Welle“. Ich habe herauszufinden, was diese einmalige Welle ist. Meine Lebensaufgabe ist es, diese einmalige Welle zu sein und sie und damit meine wahre Natur in all ihren Möglichkeiten zu verwirklichen. Ich übernehme Verantwortung für mich und für meine Welle. Ich kann sie verändern und alte Gewohnheiten und Vorstellungen lassen. Aus einer engen und konditionierten, kraftlosen und eingeschränkten Welle kann ich eine freie und dynamische Welle machen. Aber es bleibt immer die Welle, die ich bin. Und ich werde erfahren, dass diese Welle und dieses „Ich bin“ das Meer und das Ganze ist und dass kein Unterschied besteht, dass es nur dieses eine Leben in einem Prozess gibt. Dann fallen alle Perspektiven zusammen und es gibt weder Leere noch Form und es gibt wieder Leben noch Sterben. Es gibt nur diesen Augenblick gerade jetzt. Und den gibt es für ewig. 

Es geht bei diesem Weg nicht um die eigene Selbstverwirklichung. Wenn ich spüre und erfahre, dass ich nicht getrennt bin von allem anderen, dann bedeutet Verantwortung übernehmen für mich auch Verantwortung übernehmen für das Ganze. Und dem-entsprechend habe ich dann zu handeln, in Liebe. 

Ich bin der, der ich bin

Ich bin der, der ich bin. Ich könnte auch sagen, ich werde zu dem, der ich bin. Auf dem Weg, den ich gehe, werde ich zu dem, der ich bin. Schritt für Schritt verwirkliche ich mich. Aber ich bin es immer, jeden Augenblick, jetzt. Und ich bin so, wie ich jetzt bin. Ich muss nichts wegnehmen und nichts hinzufügen 

Ich bin es also auch an diesem Ort, egal wo ich bin. Da, wo ich mich hingestellt habe. Oder hingestellt wurde. Vielleicht empfinde ich eher letzteres. Dass es mit mir gemacht wurde, dass ich nicht gefragt wurde, ob ich denn wirklich sein möchte. Aber das ändert nichts an meinem Hiersein an diesem Ort. Das ist nicht nur mein grundsätzliches Hiersein in dieser Welt, es ist mein ganz konkretes Hiersein gerade jetzt an diesem Ort, gleich, was ich gerade tue. 

Ich muss nicht weglaufen. Ich darf hierbleiben. Ich muss nicht rastlos von einem Ort zum nächsten ziehen. Das gilt auch für mein Denken und Empfinden. Da wo ich jetzt bin, ist schon alles vorhanden. Da wo ich jetzt bin, bin ich schon ganz. Da wo ich jetzt bin, ist mein ganzes Leben. 

In diesem Augenblick steht mir die ganze Welt offen. Ich muss nicht darum kämpfen. Ich kann es geschehen lassen. Das was geschieht, geschieht. In diesem Augenblick vollzieht sich mein ganzes Leben. Und es ist gut so. 

Und wenn ich das aber ganz anders empfinde? Wenn ich doch unter diesem konkreten Augenblick leide, wenn ich mich doch an diesem Ort, an dem ich gerade bin, nicht wohl fühle? Diese Situation gerade, dieser Mensch neben mir, diese Arbeit, die ich gerade mache, dieser Körper, in dem ich stecke, die gesamte Weltlage, politisch, sozial, wirtschaftlich, nichts davon entspricht meinen Vorstellungen. Es ist alles eben nicht gut!

Beides ist richtig und das ist schwer zu verstehen. Zunächst einmal, natürlich kann ich die Welt nach meinen Vorstellungen gestalten. Genau das macht uns ja auch zum Menschen. Wir wollen leben und uns verwirklichen. Das geht aber nur miteinander, denn auch, wenn jeder von uns ein einmaliges, individuelles Lebewesen ist, ist er gleichzeitig mit allen anderen Lebewesen verbunden. Das schafft viele Reibungsflächen. Ob daraus dann ein Kampf oder ein Tanz entsteht, das können wir mit unserer Haltung beeinflussen.

Manchmal müssen wir um unser Überleben kämpfen, das heißt, alle unsere Kräfte konzentrieren, um nicht unterzugehen. Zumeist wird ein Kämpfen aber gar nicht notwendig sein. Wir tun es aber dennoch, fühlen uns alle Zeit angegriffen und sind bereit, in jedem Augenblick zurückzuschlagen. Das bindet dann viel von unserer Lebenskraft. Oder wir fühlen uns bereits erschöpft und ausgelaugt. 

Wenn ich dann innehalte, einmal zur Ruhe komme, mich besinne, dann kann ich es spüren. Ich bin, der ich bin, allezeit, in diesem Augenblick. Ich bin getragen und aufgehoben. Vor allem, ich kann mir vertrauen. Wenn ich mir vertraue, kann ich auch der Welt vertrauen. 

Wenn ich aber doch eher verzweifelt oder ängstlich bin? Spüren, dass ich hier bin, jetzt, an diesem Ort. Mein Atem kommt, mein Atem geht. Das ist es und nicht mehr. Mein Atem kommt, mein Atem geht. Dem kann ich vertrauen und brauche nichts zu tun. Nur Schauen und Spüren. Einatmen. Ausatmen. Vertrauen wächst, Schritt für Schritt. Der Boden trägt. Vertrauen wächst, Atemzug für Atemzug. 

Mir geht es auch gut, wenn es mir nicht gut geht. Diese tiefe Wahrheit erfahren bedeutet, die eigene Quelle zu erfahren. Das kann in jedem Augenblick geschehen. Um daraus dann zu handeln und zu tun, was zu tun ist.