Und dann?

Erwachen bedeutet absolute Nichtidentifikation. Ich hänge an nichts mehr fest, ich bin absolut frei und fließend. Keine Konzepte!

Aber meine Tendenz zur Identifikation holt mich schnell und vor allen Dingen subtil wieder ein. Ich brauche nur zu denken, ich bin erwacht und schon bin ich identifiziert, hänge ich ein weiteres Mal fest. Und meine Nase trage ich wieder ein Stück höher. 

Was bedeutet es, zu erwachen? Es bedeutet nichts, nichts, nichts. Das einzige, wozu Erwachen gut sein kann, ist die Umsetzung unseres Bodhisattva-Gelübdes in ein alltägliches Handeln zum Wohle aller! Die gelingt aber nur, wenn ich an nichts festhalte und einfach das tue, was zu tun ist.

Was ist das Bodhisattva-Gelübde? Die vier großen Gelübde sind ein häufig rezitierter Text im Buddhismus und im Zen, vor allem während Sesshins. Sie geben Hinweise und eine Ausrichtung. 
Zahllos sind die Lebewesen, ich gelobe, sie vom Leid zu befreien.

Grenzenlos sind die Verhaftungen, ich gelobe, sie alle zu lassen.

Unzählbar sind die Tore der Wahrheit, ich gelobe, sie zu durchschreiten.

Unübertroffen ist der Weg des Erwachens, ich gelobe, ihn zu gehen.
Was soll denn ein Gelübde, und dann noch so eins? Ein Gelübde ist ein Versprechen, sich an ein bestimmtes Verhalten oder an bestimmte Regeln zu halten. Dabei hören wir doch im Zen immer, lebe aus deiner spirituellen Erfahrung, tue, was zu tun ist!  

Alles richtig, das Wesentliche ist die eigene spirituelle Erfahrung, eins zu sein mit allem und das Leben als solches in seiner ganzen Fülle. Daraus ergibt sich eben sehr viel Verantwortung und ein natürliches ethisches Verhalten, ohne dass ein strenges System von Verboten und Geboten befolgt werden muss. Auf der anderen Seite schätzen wir aber auch unsere Tradition, ihre Texte und Überlieferungen. Wir müssen allerdings lernen, unsere Tradition zu verstehen und zu übertragen in unser Leben jetzt. Hinter jedem einzelnen von uns stehen unzählige Generationen. Was unser spirituelles Erbe angeht, so verdanken wir ihm viele Hinweise für unsere Praxis und unseren Weg. Wenn wir diese Hinweise aber nicht für unseren Alltag jetzt deuten können, nützen Sie uns nichts.

Nach der Überlieferung ist ein „Bodhisattva“ ein Erwachter, der nach seiner Erfahrung alles dafür tut, dass auch andere an dieser Erfahrung teilhaben. Für uns heute bedeutet das, wir begegnen dem Leben in all seinen Erscheinungen und Formen mit Liebe und Mitgefühl. Nichts anderes bedeutet der erste Satz des Gelübdes: „Ich gelobe, sie vom Leid zu befreien“. Das bedeutet nicht, in blinden Aktionismus zu verfallen oder gar andere Menschen zu missionieren und sie von einem wahren Weg überzeugen zu wollen. „Vom Leid befreien“ bedeutet auch nicht, dass ich mir selbst und anderen Lebewesen alle körperlichen und seelischen Schmerzen nehme. Das könnte ich niemals. Es bedeutet vor allem, sich selbst von allen Illusionen frei zu machen und zur wahren Erkenntnis durchzubrechen. Es gibt niemanden, der leiden könnte und doch gibt es den Schmerz. Indem ich einfach das Leben verkörpere, das ich bin, in dem ich einfach das tue, was zu tun ist, ist alles vollendet. Und natürlich bedeutet das auch, dass ich mich allen konkreten Herausforderungen meines Alltags stelle und für das Leben in jeder Form eintrete. Ich kann mich jeden Tag für soziale und ökologische Gerechtigkeit und für die Freiheit jedes einzelnen einsetzen. 

Im zweiten Satz sind die „Verhaftungen“ angesprochen, von denen ich mich immer wieder zu lösen habe. Verhaftungen sind nichts anderes als alle meine Illusionen, die ich mir mache, alle meine Konzepte von der Wirklichkeit und alle Identifikationen, auf dich immer und immer wieder hereinfalle. Immer wieder neu kann ich sie lassen. 

Im dritten Satz gelobe ich, die „unzählbaren Tore der Wahrheit zu durchschreiten“. Jeder Augenblick, jede Situation, jedes Phänomen, jedes Ding, jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, diese Blume dort oder der Schmetterling oder dieser Mensch, der mir gerade begegnet, ist ein Tor der Wahrheit. Wenn ich nur eins von den vielen wirklich durchschaut habe, habe ich alle durchschaut. Wenn ich nur ein Tor ganz durchschritten habe, habe ich alle durchschritten. In jedem Augenblick kann ich aufwachen zu dem, was ich schon immer wesenhaft bin.

In der vierten Zeile gelobe ich schließlich, den „unübertroffenen Weg des Erwachens“ zu gehen. Das ist der Weg, den uns Buddha Siddhartha Gautama, alle Patriarchen und Zen-Meister und alle Erwachten vor uns gewiesen haben. 

Das ist der Weg unserer Übung, 

unser stilles Sitzen,

unser Za-Zen.