Wahrlich, fehlt gerade irgendetwas? Das Nirvana ist hier, vor unseren Augen. Dieser Ort hier ist das Lotosland, dieser Körper hier der Buddha. Hakuin
Die WAHRE WIRKLICHKEIT ist die Wirklichkeit, die gerade jetzt ist.
Wie jetzt, das kann doch nicht? Du willst doch nicht behaupten, dass diese Welt mit all den Ungeheuerlichkeiten, die tagtäglich geschehen, das ersehnte Paradies ist? Du meinst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich mich mit all meinem Unwohlsein, Leid und Unglück im Grunde bereits im Nirwana, im unendlichen Glück, aufhalte? Das Glück, das ich kenne, verweilt bei mir nur kurz. Kaum habe ich es, ist es auch schon weg und lässt mich leer zurück.
Wenn ich auf einem spirituellem Weg bin, mich in Kontemplation übe oder Zen, bin ich auf einem Weg, der mich hinführen soll zu dieser irgendwie anderen Wirklichkeit. Meine Alltagswirklichkeit zu verlassen, gerade darum habe ich mich auf den Weg gemacht. Das Leben, das ich geführt habe, das Wissen, das ich angesammelt und den Glauben, den ich möglicherweise gepflegt habe, all das möchte ich doch verändern, irgendwie überwinden. Ich habe gehört, da könne man etwas „erweitern“. Jedenfalls war ich mit der aktuellen Situation nicht mehr zufrieden, vielleicht überhaupt noch nie oder mein bisher festgefügtes Weltbild passte plötzlich nicht mehr, wurde erschüttert durch ein Ereignis, das mir den Boden unter den Füßen wegriss. Jetzt muss ich mich neu orientieren, brauche frischen Input für meine weitere Entwicklung. Schmerzhaft habe ich erfahren müssen, das nichts so bleibt, wie es ist, das nicht nur die Welt in stetiger Veränderung begriffen ist sondern auch meine ganz konkrete Welt um mich herum. Nichts bleibt so, wie ich es gerne hätte. Alles, was ich zu erreichen glaubte, zerrinnt mir wie Sand zwischen meinen Fingern. Schlimmer noch, gerade das Schöne, das Angenehme, das Liebgewonnene und Wertvolle ist nicht zu halten und scheint sich zu verflüchtigen während das Unangenehme, Schmerzhafte und Bedrängende bleiben will. Was soll das nur? Womit habe ich das verdient? Bin ich geboren, um dann zu leiden und zu sterben? Gut, es gibt Perioden mit einer gewissen Stabilität, vieles in meinem Alltag lässt sich verändern, ich selbst bin nicht nur gesellschaftlich aktiv sondern übe mich in der Optimierung meiner Persönlichkeit, schließlich kann ich nicht erwarten, dass die anderen sich immer nach mir richten, aber irgendwann kommt dann wieder ein Tiefschlag. Ich will mich nicht geschlagen geben und probiere ständig etwas Neues so. Ich will die Wirklichkeit so verändern, dass sie endlich passt, dass sie endlich so ist, wie ich es brauche. Ich will nicht immer enttäuscht werden.
Ein spiritueller Weg verspricht mir, endlich aufzuwachen, endlich anzukommen und das Leben so zu sehen, wie es ist. Da scheint ein Mehr drin zu stecken, ein Gewinn. Könnte es tatsächlich gelingen, eins zu werden und alle Getrenntheit zu überwinden? Ist es das, was mir fehlt? Es hört sich jedenfalls gut an und könnte endlich den stetigen Misserfolgen ein Ende bereiten. Nie mehr unglücklich sein und aufgehoben in unermesslicher Liebe.
So ist es nicht. Es geht in der Tat um die Erfahrung der WAHREN WIRKLICHKEIT. Und diese Erfahrung ist überwältigend und stellt alles bisherige auf den Kopf. Vielleicht aber auch andersrum, vom Kopf auf die Füße, indem sie all unsere Einbildung, all unser Festhalten und Klammern, all unsere Ängste wegwischt. Und die größte Angst ist ausgerechnet identisch mit demjenigen, den wir für den Mittelpunkt unseres Daseins halten, um den sich alles dreht, mit dem wir alles steuern. Unser Ich. Oh, nicht wieder das arme Ich „bashen“, höre ich die Kommentare der Fortgeschrittenen. Aber darum geht es gar nicht, das Ich ist als Instrument zur Orientierung und Alltagsbewältigung hilfreich, sinnvoll, sogar unabdingbar. Aber eben nur ein Instrument und nicht das Zentrum des Lebens und Erfahrens. Leben und Erfahren geht immer nur im Augenblick. Und im Augenblick gibt es kein Ich, da gibt es nur das unmittelbare gerade Jetzt, kein Ding, kein Begriff, kein Handelnder, keine Person, kein Subjekt, kein Objekt.
Die WAHRE WIRKLICHKEIT ist nicht das biblische Paradies, das ich erreichen könnte, kein Jenseits, das eines wie auch immer gearteten Schrittes oder Sprungs bedarf. Es bedarf auch nicht meines Todes. Ich kann mich anstrengen wie ich will, laufen bis zum Umfallen und werde doch niemals ankommen. Was für eine Enttäuschung! Oder?
Das war jetzt gemein, zugegeben. Also raus damit! Wie kannst du ein Ziel erreichen, an dem du schon bist, wie einen Gipfel besteigen, auf dem du schon stehst?
Das meinst du jetzt nichts ernst? Diese triste und düstere Wirklichkeit ist das gelobte Land?
Es ist paradox und lässt sich nur auf paradoxe Weise erklären. Etwas erreichen, was schon erreicht ist, etwas erfahren, was ich jeden Augenblick erfahre, gerade auch dann, wenn ich es nicht erfahre. Es gibt überhaupt kein Etwas, es gibt Nichts, von dem ich jemals getrennt sein könnte, weil ich von Anfang an immer schon eins bin. Es gibt auch keinen Anfang, es gibt auch kein Ich. Es ist immer schon das So-Sein, es ist immer schon eins, jedenfalls Nicht-Zwei, auch wenn ich mir einbilde, dass ich getrennt bin. In dem Augenblick, in dem ich realisiere, dass auch meine Vorstellung von Trennung eins ist, dass jede meiner Vorstellungen eins ist, hat sie sich aufgelöst.
Um nachzuvollziehen, was ich sage, ist die spirituelle Praxis, unser Za-Zen sinnvoll, vielleicht sogar notwendig. Die WAHRE WIRKLICHKEIT ist aber immer schon da und verlässt mich niemals. Sie ist genau das, was ich jetzt bin. Ich kann niemals aus ihr herausfallen. Wenn ich das erfahre, kann ich endlich aufhören, einer Ersatzbefriedigung nach der anderen hinterherzulaufen. Ich kann aufhören, Seifenblasen zu jagen. Ich kann endlich einfach leben. Das heißt nicht, dass nichts mehr zu tun wäre, im Gegenteil. Die Alltagswirklichkeit, die ich erfahre, ist immer eine konstruierte Wirklichkeit, sie ist immer gestaltet und ich bin für ihre Gestaltung mitverantwortlich. Nichts muss ich erlangen, es gibt nur diese Zeit und diesen Ort jetzt hier. Das ist, was ich grundsätzlich anzunehmen habe. Das ist vollkommen. Aus diesem Einssein heraus schaffe ich meine persönliche und soziale Wirklichkeit, in Mitgefühl.
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