Das Leben endet nie

Das Leben endet nie, sagt Willigis. Was bedeutet das für uns?

Das Jahr 2021 geht gerade zu Ende. Ein neues Jahr beginnt bald.
Irgendwie selbstverständlich für die meisten aber dieser Wechsel, diese Ordnung, dieser Kalender ist menschengemacht, Ergebnis unserer Beobachtung der Welt und ihrer Rhythmen und ihrer geistigen Verarbeitung.
Also nicht willkürlich sondern basierend auf Fakten, auf den Lauf unserer Gestirne, deren Interpretation je nach kulturellem Umfeld auch andere Modelle, andere Ordnungen möglich machen. 

Wieder ein Jahr vergangen und sehr deutlich spüre ich diese Erkenntnis, dass die Zeit immer schneller vergeht, je älter ich werde. Als Kind wollte ich so schnell wie möglich erwachsen werden, auch wenn jeder Tag den Zauber des Unendlichen in sich trug und Zeit überhaupt noch keine Rolle spielte.
Für Kinder ist Leben dieser Augenblick und erst nach und nach entwickelt sich eine Perspektive aus Raum und Zeit. Vor allem aber schauen wir zunehmend als Beobachter auf  die Welt und verlieren dabei unser unbewusstes In-der-Welt-sein und damit das Bewusstsein für unser immerwährendes Einssein.

Diese Entwicklung macht uns zum Menschen, darf aber beim Denken nicht stehenbleiben sondern muss darüber hinausführen zu einer Erkenntnis, die uns immer wieder vollständig zu unserem Wahren Wesen aufwachen lässt.

Aufwachen heißt Aufwachen, nicht Etwas-Erreichen-wollen. Wenn wir erkennen, das wir eins und immer schon eins sind, kann sich daraus eine ganz andere Haltung zum Leben und ein Lebensstil entwickeln, der angemessen mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten umgeht und allen Lebewesen eine Entfaltung ihres Potentials ermöglicht. Statt auf Kosten der anderen zu leben, um die eigene Einsamkeit zu kompensieren. All das Gerangel um Einfluss, Macht und Reichtum in welcher Form auch immer ist Ergebnis unserer Blindheit uns selbst gegenüber und dem, was wir immer schon sind.

Das zweite Jahr der Pandemie geht vorüber und damit ein weiteres Jahr der berechtigten, inszenierten und instrumentalisierten Ängste. Ja, diese Pandemie bedroht Leben und es ist legitim, alles nur mögliche zu unternehmen, um Leben zu schützen. Da unser Wissen begrenzt ist und Zeit zur Erweiterung und Vertiefung braucht, sind auch Entscheidungen nicht leicht zu treffen, die getroffen werden müssen. So kommt es zu Einschätzungen, die sich im Nachhinein als unangemessen und falsch herausstellen. Fehler scheinen unvermeidlich, dennoch fehlt es häufig einfach an  umfassenden Überblick und Weitsicht. 

Das Leben endet nie und trotzdem sind, seitdem ich wissentlich auf der Welt bin, etliche Menschen gestorben, die mir wichtig und vertraut waren und viele Millionen anderer Menschen, deren Schicksale mir nahe kommen, je mehr ich darüber erfahre.
Viele sterben weiterhin mit, an und vor allem ohne Corona und nicht erst, wenn das Alter seinen Tribut fordert. Sondern viel früher als Opfer von natürlichen wie menschengemachten Katastrophen durch Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeiten, die in Flucht und Vertreibung münden und nicht selten in irgendeinem  Meer oder an irgendeinem Zaun enden. 

Das Leben endet nie und doch ist Willigis als der Autor dieses Satzes gestorben, ich werde sterben und Du als Leser auch, wie alle anderen Menschen auf diesem Planeten.
Keiner weiß genau, wann und zumeist verdrängen wir unsere Gedanken daran. Mit zunehmenden Alter allerdings nimmt das Wissen um die Endlichkeit zu und in Zeiten wie jetzt tritt sie für viele als Angst ins Bewusstsein.

Angst ist Enge und diese prägt dann unsere Sicht auf die Welt und unsere Entscheidungen. Jeder von uns will leben und spüren können, das er lebt. Vielleicht nicht immer, manchmal ist die Sicht so eng geworden, dass sie kein Licht mehr durchlässt, das eigene Leben wird unerträglich und der Lebenswille erlischt. Geht das nicht vorüber und ist dringend notwendige Hilfe von anderen nicht gegeben oder wird nicht angenommen, dann endet diese Enge in einer Katastrophe und einem Tod, viel früher als eigentlich möglich gewesen wäre. 

Das Leben endet nie.  Also, was kann ich mit diesem Satz anfangen? Ich verstehe ihn nur, wenn ich nicht ausschließlich mit diesem einen Leben identifiziert bin, welches ich gerade von Augenblick zu Augenblick führe und an dessen Geschichte ich schreibe. Dieses hat in der Tat begonnen mit meiner Geburt und wird enden mit meinem Tod. Aber das ist eben nicht alles und damit meine ich nicht ein Weiterleben nach dem Tod wie immer auch vorgestellt oder eine Wiedergeburt. Damit meine ich mein eigentliches oder eben Wahres Wesen, als das sich dieses Leben gerade jetzt in dieser meiner Form ausdrückt. Dieses Wahre Wesen ist aber nicht irgendwann und irgendwo sondern konkret dieses Leben als diese Form gerade jetzt. Dieser Atemzug, dieser Schritt, dieser Gedanke.

Dieses Leben vollzieht sich unendlich in unzähligen Atemzügen, Schritten,  Empfindungen und Gedanken, als unzählige immer wieder neu erscheinende und vergehende Formen. Dieses Leben bin ich und darum hört es nie auf. Immer und immer wieder neu gebiert es sich als eine unzählbare Vielzahl von Formen. Von keiner Form bin ich geschieden. Ich bin eins als alle diese Formen. Ich bin frei, mich auf eine Form zu reduzieren, ja sogar soweit, mich als getrennt und einsam zu erfahren. Ich bin frei, mich als jede Form zu erfahren und damit als diesen ganzen Prozess, der das Leben ist.

Ein neues Jahr steht bevor, ein neues Kapitel meiner Geschichte kann geschrieben werden von mir selbst und durch andere. Wenn ich spüre, wer ich wirklich bin, wenn ich erkenne, dass ich dieses ganze Leben bin, wenn ich erfahre, dass dieses Leben nichts anderes als Liebe ist, welchen Platz fände dann noch die Angst in mir. Voller Vertrauen und Gelassenheit kann ich dann jedem Augenblick und jeder Herausforderung begegnen.  

Aber, wenn ich es noch nicht spüre und die Angst mich gepackt hält? Auch darin drückt sich das Leben aus, ich kann es niemals verfehlen. Das Leben endet nie.