Was ist die GANZE Wirklichkeit? Immer und immer wieder die gleiche Frage.
Unsere Koan-Sammlungen sind voller Begegnungen zwischen Schülern und Meistern, wo diese Frage gestellt wird, in unterschiedlichen Gewändern. In alten Zeiten fragten die Zen-Schüler oft „Was ist Buddha?“ und meinten damit das gleiche. Nicht den historischen Buddha, sondern den Wesenskern seiner Erfahrung, nichts anderes also als unseren eigenen Wesenskern und eben die ganze Wirklichkeit. Und die Antworten überraschen alle diejenigen, die einen philosophischen Diskurs erwarten, einen konkreten Entwurf, ein bestimmtes Konzept, dem wir folgen und mit dem wir uns auseinandersetzen können. Die Geschichte der Philosophie kennt viele Interpretationen des Begriffs Wirklichkeit. Auf unserem spirituellen Weg hilft uns vielleicht die Deutung unseres christlichen Mystikers Meister Eckart: Wirklichkeit = Wirken im Jetzt.
Nichtsdestotrotz führt für unser Zen jeder Versuch einer Interpretation in die Irre. Die Erfahrung des Zen liegt eben jenseits von Konstruktion und Konzept. Davon zeugen zum Beispiel die Fälle 18 und 21 aus dem Mumonkan. Im Fall 18 antwortet Meister Tôzan (-990) auf diese Frage mit „Masagin!“ (Drei Pfund Flachs), im Fall 21 sein Dharmaüberträger Ummon (-950) mit „Kanshiketsu!“ (Ein vertrockneter Kotspatel). Letzterer hatte wohl damals in China die Funktion, die heute unser Toilettenpapier übernommen hat. Und Flachs war damals in China wie bei uns der Stoff, aus dem unsere Kleidung und Haustextilien gewebt wurden, Leinen.
Was hat diese Antwort mit der gestellten Frage zu tun? Und was würdest Du, mein Schüler von heute davon halten, wenn ich Deine wohlüberlegte Sinnfrage mit dem Ausruf „Klopapier!“ beantworten würde. Dennoch sind die Antworten der alten Meister kein willkürlicher Unsinn. Also, was heißt das nun, „Masagin!“, „Kanshiketsu!“? Um das zu verstehen, muss ich eins werden mit diesem Koan und alles über Bord werfen, was mir gedanklich dazu einfällt, alle Erklärungen und auch alle Gefühle des Abscheus und des Ekels. Was haben die Hinterlassenschaften unseres Stoffwechsels mit den großen Fragen des Lebens zu tun? Die meisterlichen Antworten sind sicherlich nicht nachlässig dahergesagt sondern offenbaren die überragenden Fähigkeiten der damaligen Lehrer, aus tiefstem Mitgefühl die Augen ihrer Schüler zu öffnen.
Im Zen gibt es kein Darüberreden. So wichtig in unserem zwischenmenschlichen Umgang der Autausch und eine funktionierende Kommunikation ist, haben sie in der Übung nichts zu suchen und sind eher hinderlich. Oder wir müssen sie in einer anderen Dimension jenseits von Worten und Begrifflichkeiten verstehen und praktizieren. Wir können sogar unsere Sprache benutzen, das tun die Koans ja auch, aber die Worte führen dann über ihre eigentliche Bedeutung hinaus in die Wirklichkeit des NICHT-ZWEI, die nichts anderes als unsere konkrete Alltagswirklichkeit ist.
Wie kann sie aber unsere konkrete Alltagswirklichkeit sein, wenn ich davon gar nichts merke? Die Formen sehe ich, viel zu viele davon, aber wie ist es mit der LEERE, mit dem URSPRUNG, mit dem Unbegreiflichem, zu dem mich mich meine Sehnsucht hinzieht? Der Unterschied scheint in einer veränderten Sichtweise zu liegen. Ich sehe einmal meine Wirklichkeit aus der Perspektive eines differenzierenden Denkens und ein andermal aus der Perspektive eines vereinheitlichenden Denkens. Dieser Gedanke führt in die richtige Richtung, ist aber noch ein Gedanke. Er erklärt, hat aber nichts zu tun mit der ERFAHRUNG als solche.
Es ist eben so, die GANZE Wirklichkeit zeigt sich mir immer konkret in jedem Augenblick. Es ist dies, dies, dies. Um sie zu sehen, muss ich die Schranke ohne Tor passieren. Nichts verändert sich dann, doch alles ist verändert und strahlt in einem neuen Licht, besser noch, es strahlt in einem Licht.
Keine Sorge, auch Du stehst in diesem Licht und badest in seinen Strahlen, mehr noch, Du bist derjenige, der strahlt.