Geschichten

Im Zen geht es nicht um Geschichten. Im Zen geht es immer nur um den Augenblick gerade jetzt. Das ist die ganze Wirklichkeit.

Das willst du nicht hören. Du liebst deine Geschichten. Ohne Geschichten verfällst du in Panik. Vielmehr, es ist dein Ich, was vor Angst zittert. Deinem Ich fällt immer etwas Neues ein, es ist schlau, es ist geschickt, es weiß sich zu verstecken und dir glauben zu machen, du wärest auf dem Weg, es zu überwinden. Dass Ich überwinden, so heißt es doch immer in den spirituellen Traditionen, das kleine, verblendete Ich, dass mich davon abhält, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

Gleich, ob ich auf einem spirituellen Weg bin oder ganz einfach nur mein Leben lebe, meine Geschichten geben mir den Rahmen, in dem ich mich bewege, sie helfen mir die Wirklichkeit zu deuten und zu verstehen. Sie helfen mir, mich zu verstehen. Jedenfalls tun sie so. Je nachdem, welche Geschichte ich mir gerade ausdenke, beeinflussen sie mein ganzes Leben, meine Stimmungslage, meine Gefühle, meine Motivation und das daraus folgende Denken. Empört könnte ich zurückweisen, ich denke mir keine Geschichten aus, ich lebe in einer Geschichte, meiner Geschichte, die mit meiner Geburt begann oder auch schon viel vorher, je nachdem ob Wiedergeburten in meine aktuelle Dramaturgie passen. Ich weiß doch schließlich, was mir widerfahren ist, jedenfalls mehr oder weniger und wenn ich es nicht weiß, gehe ich zu Fachleuten, die mir bei der Deutung helfen. Darum sind die Praxen der Psychologen und Therapeuten noch immer voll. Und die der zahllosen alternativen Deuter erst recht. Wir wollen schließlich wissen, was los ist. Mittlerweile gibt es eine ganze Industrie, die sich um unser Innenleben bemüht, die uns hilft, Träumen auf den Grund zu gehen, unsere Gefühle zu erfahren und zu verstehen, vergangenem Leben nachzuspüren, kurzum, die uns hilft, Geschichten zu kreieren.

Unsere Geschichten halten uns davon ab, der zu sein, der wir sind und unser Leben jetzt zu leben. Dabei gibt es unser Leben immer nur gerade jetzt und wir verpassen es, wenn wir in unseren Geschichten leben. In unseren Geschichten finden wir die Identität, von der wir glauben, ohne sie nicht auskommen zu können. Dort finden wir die Begründung, warum wir so sind, wie wir sind. Als ich Kind war, bin ich schlecht behandelt worden, darum bin ich jetzt so.

Als ich jung war, hab ich mir mein Leben ganz anders vorgestellt als es tatsächlich gekommen ist. Wenn es so gekommen wäre wie ich gewollt hätte, dann… In einem vorigen Leben habe ich dies oder jenes gemacht und darum muss ich jetzt mit den Folgen leben. Im Laufe meines Lebens habe ich zu wenig Liebe erfahren, daran leide ich jetzt. Mein Partner war schlecht zu mir, darum kann ich jetzt nicht anders. Usw. .Es geht gar nicht darum, schlimme Erfahrungen oder Erlebnisse kleinzureden und Verletzungen zu ignorieren, die jetzt noch wirken. Im Gegenteil, es ist wichtig sie wahrzunehmen, zu klären und auf diese Weise aufzulösen. Aber dann ist es auch gut und ich kann sie ruhen lassen. Ich brauche sie dann nicht mehr für den, der ich bin. Ich bin immer neu jetzt. Oder besser, es ist immer neu jetzt. Das ganze Leben und die ganze Wirklichkeit. Dazu gehört auch das Denken und die Gedanken. Sie entstehen und sie vergehen, wie alles andere auch. Sie haben aber auch die Tendenz, zu erstarren und Strukturen zu bilden, die sich selbstständig erhalten wollen. Das Ich ist eine solche Struktur und damit das Ergebnis von gedanklichen Prozessen und nicht ihre Ursache. Es ist sogar eine notwendige Struktur, um im Alltag miteinander zurecht zu kommen und diese Form, die ich bin zu präsentieren. Wenn ich aber das Leben, das ich bin und ich bin das ganze(!) Leben, darauf reduziere, dann bin ich dieses Gefängnis, dass ich konstruiere. Im Grunde genommen ist mein Ich eine vorübergehende Struktur. Das will ich aber nicht hören. Ich habe Angst vor der Auflösung. Das Ich hat Angst vor der Auflösung. Darum tut es alles, um seine Beständigkeit vorzugaukeln. Wenn ich es dann versuche, los zu werden, taucht es immer wieder neu auf in einer Vielzahl unterschiedlicher Verkleidungen, immer wieder neue Geschichten.

Gerade auch auf dem spirituellen Weg versucht es mich zu überzeugen, dass es nicht mehr da ist, das ich es bereits losgelassen habe. Witzig, wie kann ein Ich sich selbst loslassen? Ich baue mir dann eine neue Identität auf das sich loslassenden oder bereits losgelassenen Ich’s. Dazu lege ich mir eine ganze Bibliothek zu mit immer wieder neuen Büchern zu alten Konzepten, ein neues Outfit, einen neuen Habitus, einen neuen Freundeskreis. Dort fühle ich mich verstanden und aufgenommen. Wir unterstützen uns gegenseitig im Loslassen und tauschen vielerlei Tipps aus, was oder wer gerade „in” ist im Loslassen, wem wir folgen und zum Ziel unserer Projektionen machen können, welches Buch, welches Seminar, welches Event wir noch unbedingt machen müssen, um endgültig loszulassen.

Dabei ist es doch so einfach.

Es ist immer nur dieser Augenblick gerade jetzt. Nur dies ist das Leben. Wo bin ich gerade (?), dieser Atemzug, dieser Ort, diese Zeit.