Stille Nacht

Wenn ich sterbe und ein letztes Mal ausatme, wird es still. Aber um Stille zu erfahren, muss ich gar nicht sterben. Es ist das Ich, das sich loslassen muss, um die Illusion der Existenz von Leben und Tod zu erkennen, damit die große Stille sich in mir ausbreiten kann. Aber wie könnte ich etwas loslassen, das gar nicht existiert? Wenn ich diese Frage beantworten kann, dann ist schon losgelassen.
Die Herausbildung des Ich stellt einen Höhepunkt unserer Evolution dar und scheint ein notwendiger Schritt zu sein, um ganz Mensch zu werden. Die meisten Menschen haben diesen Schritt erst ansatzweise vollzogen. Sie identifizieren sich mit den in ihrer jeweiligen Kultur vorherrschenden Mustern, die sie unbewusst kopieren und verteidigen als vermeintlich persönliche Errungenschaften statt sich selbst auf den Weg zu machen und die eigene einmalige, unverwechselbare Persönlichkeit zu entdecken. Vor allem aber verwechseln Sie eine Konstruktion mit der Wirklichkeit.
Sich zu einem reifen Ich zu entwickeln bedeutet, weitestgehende persönliche Autonomie zu verwirklichen und sich gleichzeitig der eigenen Interdependenz, also seiner Verbundenheit in der Mitwelt und den daraus resultierenden Wechselwirkungsprozessen, bewusst zu sein. Ein reifes Ich erkennt seine Bedingtheit in einer unendlichen Abfolge von Handlungen und Ereignissen. Und es sind nicht nur die eigenen Handlungen. Alle unsere Vorfahren stehen hinter uns.
Nur ein Ich, das tatsächlich Konturen besitzt, kann auch überschreiten werden – hinein in einen größeren Zusammenhang. Ist da noch gar kein Ich, wirft mich mein Transzendieren regressiv zurück auf eine frühere Entwicklungsebene. Geboren werden, heißt voranschreiten und nicht zurückzukehren in den Mutterschoß. Ich bin immer verantwortlich für den, der ich bin. Ich bin für jede meiner Handlungen verantwortlich. Ich bin derjenige, der entscheidet, wohin meine Reise geht, in jedem Augenblick.
Ein transzendiertes Ich behält seine Struktur und Funktionen, ich kann auf all mein Erfahrenes und Gelerntes zurückgreifen, aber ich bin nicht mehr auf mich fixiert. Ich muss mich selbst, meine Persönlichkeit in all ihren Ausprägungen, Spielarten und Verrücktheiten, nicht mehr so ernst nehmen. Es sind Möglichkeiten, aber keine Dogmen, an denen ich verbissen festzuhalten hätte.
Viele unserer Konflikte in der Welt, ob sie untereinander oder in unserem Verhältnis zu Umwelt und Natur bestehen, resultieren daraus, dass wir uns als Menschen viel zu wichtig nehmen, unsere jeweiligen verblendeten Fixierungen für wahr halten und sie als Ergebnis einer vermeintlich freien, persönlichen Entwicklung ausgeben. Wahre Freiheit liegt darin, sich selbst zurückzunehmen.
„Stille heilt“, lautete der Leitsatz von Willi Massa, einem meiner ersten spirituellen Lehrer (8). Hineinzugehen in einen Raum der Stille kann mich wirklich heil machen, in jeder Beziehung. Wie gut tat es, sich mit tausenden anderen jungen Leuten in der Friedenskirche von Taizé zu versammeln und einfach zu schweigen, sich selber zurückzunehmen aus der Geschäftigkeit des Alltags, aus der eitlen Selbstdarstellung, um einfach zu werden, sich zu besinnen, zurückzukehren zu den Wurzeln und sich zu erneuern. Im Zen erfahre ich, dass ich schon immer heil bin.
In meiner Zeit als Wanderführer waren der Besuch der romanischen Kirchlein in der Weite der spanischen Pyrenäen, die Wanderung zur Kirche San Antimo in der Toscana oder ein Verweilen im ehemaligen Zisterzienserkloster von Sernanque in der Provence die Höhepunkte unserer Touren – abgesehen von der Erfahrung der Stille in Landschaft und Natur. Insbesondere die Schlichtheit und Klarheit eines romanischen Kirchenraums können die Bedingungen schaffen, Stille rein sinnlich zu erfahren und zu genießen.
Viele Menschen heute flüchten die Stille. Sie können gar nicht mehr ohne einen stetigen Geräuschpegel, ohne ständig laufenden Fernseher zuhause oder die Musik unterwegs über unsere Smartphones. Sie werden von Angst ergriffen, sobald das Unterhaltungs- und Ablenkungsprogramm versagt. Ich kenne Kinder, die in Panik ausbrechen, wenn nachts in ihrem Zimmer der Fernseher nicht läuft.
Wer sich weiterentwickeln will, muss erst einmal lernen, sich sich selbst zu stellen, hinzuschauen, was ist und sich annehmen, um dann loszulassen und weiterzugehen. Die Erfahrung eines geschützten Raumes in Stille, in einer Kirche, einem Kloster oder beim Sitzen im Za-Zen im Zendo, kann dabei helfen, die eigentliche, die innere Stille zu entdecken und zu verwirklichen. Diese wahre Stille ist immer da und hat mich nie verlassen.
Wenn ich die GROSSE STILLE erfahre, dann spüre ich mein Einssein mit der QUELLE, dem URSPRUNG, der LEERE, der LIEBE, mit GOTT. Und dann gibt es aber auch diese missverständlichen Begriffe nicht mehr. Wenn ich im Auge des Zyklons verweilen kann, dann trage ich seine Stille auch in jeden Augenblick meines Alltags, mag dort der Sturm noch so sehr toben.

„Stille Nacht, heilige Nacht!
Gottes Sohn, oh wie lacht
Lieb aus deinem göttlichen Mund“,

heißt es in unserem berühmten Weihnachtslied.
Weihnachten kann eine Zeit der STILLE sein.
Und aus ihr wird die LIEBE geboren.
Wenn Du still wirst, kannst Du es verstehen!