Üben!

Der Schlüssel zur Erfahrung auf dem spirituellen Weg ist das persönliche Üben. Gelegentlich gibt es auch tiefe spirituelle Erfahrungen, die völlig unvermittelt auftreten, dennoch in besonderen Situationen. In Momenten der Stille, der Entspannung, im Urlaub, am Meer, im Wald, bei Spaziergängen, in romanischen Kirchen genauso wie in Zeiten der Anspannung, der Hektik oder gar der Verzweiflung, wenn plötzlich ein Moment hereinbricht, der völlig anders ist als gewohnt, der alles in einem neuen, überwältigendem Licht erscheinen lässt und der die eigene Perspektive radikal verändert. 

Darüber hinaus ist das eigene Üben aber unerlässlich und eine unvermittelte Erfahrung kann auch der Beginn sein, einen spirituellen Weg konsequent und systematisch zu gehen, um mich zu vertiefen und zu weiten.

Was bedeutet es dann konkret, zu üben? Seit meiner Geburt übe ich irgendetwas und freue mich darüber, wenn ich etwas erreicht habe. Immer wieder versuche ich mich als Säugling von der Rückenlage auf den Bauch zu drehen und wenn ich das zum ersten Mal erreicht habe, freue ich mich über diesen Erfolg.       

Sich aufrichten, stehen, gehen und laufen sind die ersten Meilensteine meiner Entwicklung, später dann Fahrradfahren und dann vielleicht ein Instrument, dem ich die richtigen Töne nur dann entlocken kann, wenn ich darauf übe. Üben braucht eine achtsame und stetige Wiederholung eines Vorgangs. Irgendwann geschieht es dann wie von selbst ohne ein bewusstes Wollen und Versuchen. 

In meinem Gehirn sind dann eine Vielzahl neuer neuronale Verknüpfungen entstanden, ein neues Muster, dass künftig trägt, anregt und motiviert. Ich habe etwas Neues gelernt und kann es künftig immer wieder einsetzen und dadurch verstärken. Leider gilt dieser Mechanismus auch für meine schlechten Gewohnheiten und alle meine Konditionierungen. Sie aufzugeben und zu verlernen, also etwas Neues zu lernen und zu werden, ist immer anstrengend. Aber auch unumgänglich, wenn ich mich entwickeln und verändern möchte.

Auf einem spirituellen Weg ist mein Üben meiner Sehnsucht geschuldet nach meinem eigentlichen Selbst, meinem Zuhause, meinem Ursprung, der Quelle unseres Seins. Wer bin ich wirklich und was und wie ist die Wirklichkeit, frage ich, weil ich es fragen kann und fragen muss. Ich kann gar nicht anders als nach Antworten zu suchen, bin ich, oder sind wir alle doch evolutionär derjenige und diejenigen, in dem das Leben als solches versucht, sich zu erkennen. Darüber aber nur philosophisch, also gedanklich reflektierend zu spekulieren, kann motivieren, bringt mich aber nicht entscheidend weiter. Es bleibt Konzept und damit abgehoben und abstrakt. 

Auf unserem Zenweg geht es aber um die direkte unmittelbare Erfahrung, um den Augenblick gerade jetzt, bevor unser konzeptionelles Denken einsetzt und ihn versucht zu abstrahieren. Die Blume, die blüht, nur blühen! Der Augenblick gerade jetzt, dieser eine Atemzug, dieses Oh! Einatmen, ausatmen, immer wieder neu. Dieses „Mu!“ im Einatmen, dieses „Mu!“ im Ausatmen. In diesem Augenblick ist ES bereits vollendet und vollkommen. Mehr ist es wirklich nicht. UND ES IST UND IST NICHT. 

Aber das wollen wir nicht glauben, darum fühlen wir uns schnell gelangweilt und suchen immer wieder neue spektakuläre Erfahrungen. Die werden uns in der spirituellen Szene reichlich angeboten. Aber diese Angebote sind nichts anderes als bunte Verpackungen und verkauft wird immer nur das gleiche. Wir bezahlen einen Preis und oft sehr hohe Preise für etwas, das wir auch ganz umsonst haben könnten, denn alles was wir dazu brauchen, haben wir bereits. Wir sind ES. 

Es geht bei der Übung wirklich nur darum, sich hinzusetzen in eine stabile Position und dann „Körper und Geist fallen zu lassen“, wie Dogen sagt. Körper und Geist fallen lassen heißt, in die Präsenz zu kommen des Augenblicks. Der Atem ist dazu meine wichtigste Hilfe, ich atme ein und ich atme aus und ich schaue dem Atemzug zu bis nur atmen ist, nur noch schauen. 

 Zunächst bedarf es dazu immer wieder meiner Konzentration, weil ich sehr schnell merke, wie ich abgelenkt werde durch eine Vielzahl von Sinneseindrücken und Gedanken, Bilder, Gefühlen und Emotionen. Es gilt immer wieder zurückzukehren zu diesem Atemzug gerade jetzt, zu dem „Mu!“ gerade jetzt, für diejenigen, die mit „Mu!“ üben. Zu Beginn und immer wieder zwischendurch ist es hilfreich, sich körperlich durchzuspüren, wie bin ich hier, wie sitze ich da? Erst dann, wenn sich diese aufgewühlte See der Bilder und Vorstellungen in mir beruhigt hat, komme ich in meiner Übung weiter und kann mehr erfahren. Und es geht wirklich nur um diesen einen Atemzug gerade jetzt, um dieses „Mu!“ gerade jetzt. 

Üben und Fortschritte machen bedeutet, das ich mir regelmäßig die Zeit nehme dafür. Ich muss es eben immer wieder wiederholen. Üben auf dem spirituellen Weg, auf unserem Zenweg bedeutet, das ich mir jeden Tag 20-30 Minuten zum Sitzen reserviere. Ich sollte mir aber keine Schuldgefühle machen, wenn mir das tägliche Üben nicht gelingt. Mit Schuldgefühlen oder unter Zwang üben, bringt es auch nicht. Lieber lernen, geduldig mit sich selbst zu sein und gegenüber den eigenen Widerständen und lernen, sich selbst und dem eigenen Geist zuzuschauen und sich einzulassen, auf das, was gerade geschieht. Irgendwann findet man dann den regelmäßigen Rhythmus. 

Wenn ich dann darüber hinaus intensivere Sitzzeiten besuche, ein Zazenkai (ein Übungstag intensiven Sitzens) oder regelmäßig ein Sesshin (mehrere Übungstage), dann erfahre ich auch, dass ich diese Konzentration halten kann, dass sie sich verändert in eine weite, nicht fixierende Achtsamkeit, dass sich mein inneres Erleben verändert, dass sich eine Stille in mir ausbreitet, die ich dann auch mit hineinnehmen kann in den Alltag und aus der heraus ein Handeln geschieht, was ich als „zu tun, was zu tun ist“ bezeichne. 

Solange ich nur an der Oberfläche bleibe, also im Wasser plansche oder von Teich zu Teich springe, werde ich nicht erfahren, welche Stille in der Tiefe ist. Es ist die Stille, bevor sich die bunte und lärmende Welt der Formen erhebt, die Stille, die der Ursprung von allem ist und in allem erfahrbar in jedem Augenblick. 

Dann bin ich wirklich ICH, also bin ich nicht.